Wenn ich in meiner Ecke in der Bibliothek sitze und lese, drängt sich mir noch heute regelmäßig die eine oder andere Träne in die Augen. An anderen Tagen legt sich ein kleines Gewicht auf meine Brust. Für die Tränen schämte ich mich bis vor ein paar Jahren.

Das änderte sich im zweiten Semester meines Studiums, als ich hörte, wie Simone Weil über die Nachricht, dass eine große Hungersnot in China ausgebrochen sei, schluchzend auf dem Campus saß – und ich konnte nichts Falsches daran finden: Wie groß musste dieses Herz sein? Sollte ich nicht auf die Ausweitung meines Herzens vielmehr als auf dessen Verschlossenheit hinarbeiten?

Von da an sah ich also gutmütiger auf meine Tränen – und insofern war es keine allzu große Besonderheit, dass ich auch bei diesem Buch über die Zwischenkriegszeit eine Träne in den Augen hatte. Dennoch: Es hat mehr noch als andere Bücher in mir ausgelöst.

Die Passage, die mich besonders berührte, handelte von den aus den zerfallenden Großreichen Einwandernden in den 1920er Jahren. Diese waren damals in ein Deutschland gelangt, das selbst von der Weltwirtschaftskrise gebeutelt gewesen war: die Arbeitsplätze wurden knapp, die Einheimischen hatten Angst um ihre Arbeit und dementsprechend groß war die Feindlichkeit gegenüber den Leuten, die da kamen. Und einige dieser Einwandernden waren meine Urgroßeltern gewesen.

Die Zeit lies mich daraufhin nicht mehr los, bald war ich umgeben von Artefakten dieser Zeit: Zunächst waren da die Nachnamen meiner Freunde, die so oft noch auf -ski, -vich und -ov endeten, eine weitere Freundin kam dazu, Elli Schreiber, die mir sagte, dass der Mädchenname ihrer Mutter Jablonski gewesen war; bald fiel mir auf, wie sich die gleichen Narrative, die ich in den Büchern zu den Menschen aus dem ehemaligen Russischen Zarenreich gelesen hatte, heute über Geflüchtete aus anderen Ländern wiederholten: dass sie hier nicht hergehörten, zu anders waren, wir uns das nicht leisten könnten – und das sagten meine Freunde, die doch selbst noch so oft die Nachnamen Eingewanderter trugen. Mein größtes Problem war allerdings, dass ich zu dieser Zeit die Abneigung gegen die, die da kommen würden – zumindest von der Tendenz her – teilte. Gleichzeitig ahnte ich, ich konnte einfach der Meinung bleiben oder sie auch vorgeben, ohne dass sie sich irgendwie in meinen Handlungen zeigen würde.

Ich hätte sie also als bloßes Symbol problemlos weiter behalten können. Wie das Kreuz um den Hals eines Jugendlichen aus ihm noch lange keinen Christen macht und ihn nicht davon abhält, ein ganz und gar unchristliches Leben zu führen. Ich fragte mich, wie viel von dem was ich denke und tue, was ich glaube, dass ich bin, einfach nur Symbolik ist. Was ich zu der eigentlichen Frage denke, macht doch überhaupt keinen Unterschied. Was meine Einstellung zur Einwanderung ist, spielt in meinem Leben in erster Linie eine Rolle: die Soziale, wovon ich mich abgrenze und wo ich mich einfüge: Ich werde nie selbst an den Grenzen Deutschlands stehen und darüber entscheiden, ob dieser Mensch nun zu Recht oder zu Unrecht geflohen war, d.h. ob ich nun der Meinung bin, dass er hierher in “mein” Land kommen und Unterkunft erfahren darf, spielt kaum eine Rolle. Was ich vielmehr tue, ist mich mit meiner Meinung einer Gruppe zuzuordnen: Bin ich Teil dieser sozialen Gruppe oder einer anderen? Bin ich eine Frau, der Familie wichtig ist oder Unabhängigkeit? Ich bin ja nicht wie diese Frau mit Achselhaaren auf der Demo, sondern gepflegt wie Franca Lehfeldt, oder? Mein erster Freund, Viktor, meinte einmal zu mir: Er wäre doch nicht so “verweichlicht, wie die”; das war, so schien mir, wovon er sich abgrenzte, wenn er seine Positionen vertrat.

In dieser Zeit überwog für mich also die Befürchtung, mich mit meinen Einstellungen eigentlich vielmehr einer Menschengruppe zuzuordnen und von anderen abzugrenzen als dass es um die Sache ginge – und dagegen wollte ich mich wehren. Denn blieb ich verhaftet in diesen Zuordnungen, würde ich in Frankfurt geboren doch mein Leben lang auch in meinen eigenen Augen für immer Ausländerin in dem Land bleiben, in dem ich bis auf ein paar Urlaube mein ganzes Leben verbracht hatte. Ich wollte nicht, dass, was ich für richtig und falsch hielt, davon abhängig war, was mir die Leute signalisierten, dass hier schon die richtige Meinung sei; wollte nicht, dass man meiner Klamotte schon ablesen konnte, was wohl meine Meinungen sein würden.

Denkend wollte ich zu meinen Meinungen kommen – nichts signalisieren. Denkend den Weg zum Richtigen finden.

Im Italienischen, Französischen und Spanischen geht Denken explizit auf das Abwägen und Erwägen zurück. Ich wollte, dass Gründe, nicht Identitäten die Gewichte für meine Meinungen wurden; insofern war mein Ziel, die gleiche Sorgfalt beim Aufbau meiner Figuren auf jeder Seite der Waage an den Tag zu legen; wie es eben heißt: nicht Stroh auf die eine, Stahl auf die andere Seite der Waage legen. Und der Versuch scheiterte – am Ende musste ich immer gewichten, wie sehr ich auch versuchte, die Gegenseite zu verstehen: Immer war ich geneigt zu den Schlüssen zu kommen, zu denen ich kommen wollte. Ja, auch das Buch über die Zwischenkriegszeit hatte mich aus meiner Verbundenheit zu meinen Urgroßeltern heraus bewegt, nicht aus irgendeiner Form reiner, positionsunabhängiger Rationalität – Simone Weil schien zumindest die Verbundenheit mit der Menschheit zum Ausgangspunkt gehabt zu haben, aber sogar sie konnte nicht von sich in Anspruch nehmen, dies aus einem “Blick von nirgendwo” getan zu haben.

In meinem Leben begann eine Phase der Unruhe. Ich veränderte mich. Und mein Freundeskreis veränderte sich.

Er wurde ein Freund*innenkreis. Ich lernte Begriffe wie “Gas Lighting” oder auch “Whataboutism”. Und sah hier die selben Kräfte am Spiel: wieder war so viel bloße Symbolik, wieder bestärkten wir uns gegenseitig in unseren Meinungen, grenzten uns ab von “Pick Me Girls” und dem Normalsein; wie Viktor sich von “Schwuchteln” und Faulen abgegrenzt hatte. Sollte das der Fortschritt sein?

Trotzdem – ich war in einem neuen Kreis, hatte hart daran gearbeitet, dass man mir meine ausländischen Wurzeln nicht mehr anhörte, trug andere Klamotten und bald erkannten meine Eltern ihre Tochter kaum wieder, was nur dazu führte, dass ich spürte, wie ich die Bestätigung meiner Freund*innen umso stärker benötigte – was mich aber noch mehr in die Verzweiflung trieb: Ich war doch losgezogen, um zu denken, mich nicht immerzu einer Gruppe zuzuordnen. Was war nun anders? Diese Gruppe hatte ich gewählt – war das nun … besser?

Die Verzweiflung also blieb: noch Monate und Jahre. Ich vermute heute, sie ist der Prozess, wenn sich die Gewichte verändern. Es ist ein Herausreißen, ein niemals erreichbares Entwurzeln, um sich dann dennoch in einer neuen Umgebung wiederzufinden; einer Umgebung, in der man dann hoffentlich wachsen kann. In gewisser Weise ist es Gas Lighting gegen einen Selbst, das versucht ein konstruktives Lichten zu sein: ich bringe mich selbst zum Zweifeln an meinen eigenen Gefühlen, die mich noch immer einsam, allein und vereinzelt in meiner Meinung fühlen lassen – selbst, wenn sich mein soziales Eingebettetsein doch schon seit Jahren geändert hat; ja auch im Bewusstsein dessen, dass diese Gefühle sozial konstruiert sind – selbst, wenn ich ein paar ihrer vielen Triebfedern geschaut habe, werden sie nicht weniger real, solange das soziale Wesen, das ich ja immer auch geworden bin, nicht auf Gegenliebe trifft: So litt ich auch in meiner neuen Umgebung noch unter dem Vorhergegangenen, von dem ich mich losgesagt glaubte, denn ich war ja nicht nur, was ich mich bemühte zu sein, sondern immer auch darin gefangen, eine Gewordene zu sein.

Ich wusste bereits, dass die Schönheit voluminösen, glänzenden Haares nicht natürlich ist, nicht in dem Fallen und Reflexionen dieses Haares liegt, sondern in dem was mir in der Werbung und durch soziale Strukturen als schön präsentiert wird: Und wenn ich diese Schönheit dann nicht habe, wenn ich die feste Seife, die Seife ohne Mikroplastik verwende … und das Haar zwar sauber und frisch gewaschen, doch matt und schlaff, nicht duftend auf meiner Kopfhaut liegt, fühle ich mich … wertlos – als Frau, insbesondere osteuropäisch sozialisierte Frau, habe ich das, was ich sein soll, verfehlt. Ähnlich ergeht es meinem Freund. Er wusste schon, dass das Gehalt eines Doktoranden in Kassel mehr als genug ist, um zu überleben, um alles zu kaufen, was es braucht, wenn seine Eltern ihn aber zum Segeln an den Chiemsee mitnehmen, dann fühlt er wieder, was schon längst überkommen schien: Unser global gesehenes Zuviel ist dann ein Nicht-Genug – die Frage, wann er endlich beginnt, richtig zu arbeiten, muss nicht einmal ausgesprochen werden, um zu wirken. So verstehe ich es also, wenn ich mich heute immer auch als Gewordene denke. Und als solche leide ich, wenn ich neue Wege gehe: unabhängig sogar davon, ob sie besser oder schlechter sind als die bisherigen.

Vielleicht bin ich schwach und empfindsam, spüre deshalb den Druck von allen Seiten mehr als andere. Doch diese anderen richten dann wieder ihr ganzes Leben nur nach diesen sozialen Kräften aus, richten alles danach aus, dass sie nicht in diese zugegebenermaßen leidvolle Situation kommen, wo sie ihnen nicht gerecht werden, und das lässt mich glauben, dass ich empfindsamer bin als schwach: Mir scheint, ich spüre die Kräfte, die die anderen Treiben; ich spüre, wie mich diese Kräfte bestrafen, wenn ich anderes will … und es tue, wenn ich meine eigenen Pfade gehe, ihnen nicht gehorche. So denke ich, ich bin empfindsamer als schwach … und ja empfindlich vielleicht auch. Es mag Menschen geben, die all dies spüren, denen es dann aber leichter fällt, all dem zu widerstehen; die genauso empfindsam, doch nicht so empfindlich sind … oder sie sind stärker, schaffen es mehr Verzweiflung zu ertragen.

In welche Richtung möchte ich mich also bewegen? Ich möchte empfindsamer und stärker werden. Ich möchte offen bleibend das Falsche verneinen – im Bewusstsein, dass es mir nicht möglich sein wird, aus den Gravitationsbahnen der Sozialgewichte und meiner Positionierung herauszutreten, offen bleibend das Falsche verneinen. Und dann … hoffe ich auf einen vorsichtig konstruktiven Moment; ich hoffe darauf, neue Anfänge zu ermöglichen, hoffe darauf, diejenige zu sein, die zumindest einige der verhängnisvollen Kreise durchbricht; wie andere darauf hoffen, ein wahrhaft Einzelner zu werden, hoffe ich auf ein besseres Eingebettetsein.

ENDE

Literaturverzeichnis

Dass das Denken im Italienischen, Spanischen und Französischen auf Abwägen zurückgeht, habe ich aus dem folgenden Buch:

  • Steinmann, Jan Juhani (2021). Exzess und Selbst: Hyperphänomenologische Bewegungen nach Waldenfels. Cuvillier Verlag: Göttingen.

Auf Thomas Nagel stoße ich immer mal wieder und noch immer habe ich nichts außer die Einleitung eines Buches von ihm gelesen. Ein anderes seiner Bücher heißt wohl “Der Blick von nirgendwo”, darüber las ich und bediente mich der Metapher:

  • Nagel, Thomas & Gebauer, Michael. (1992). Der Blick von nirgendwo. Suhrkamp: Frankfurt.