Eine Asset-Managerin einer großen, bayerischen Versicherungsgesellschaft hatte, zunächst nur aus dem Streben nach Freiheit, ja in kindlicher Gewissheit, dass dieses junge, hübsche und begabte Ding dann allem nachgehen könnte, wonach ihrem Inneren der Sinn stand, ihr Leben derart eingerichtet, dass sie jede bewusste Minute dem Äußeren hingab. Im Fitnessstudio hielt sie ihren Körper leistungsfähig und gut anzusehen; in Seminaren außerhalb ihrer Arbeitszeit lernte sie schneller zu lesen und dabei mehr zu behalten: Ratgeber für Verhandlungen, zu ihrer Gesundheit, um eloquenter zu werden, sympathisch zu sein, ein Unternehmen und ein Vermögen aufzubauen, Steuern zu sparen. Und – es mag überraschen, doch: Es gelang. Denn Thekla war fleißig, hatte nicht die schlechtesten Startbedingungen und mitunter sind die Dinge, wenn man guten Mutes bei all seinen Mühen ist, nicht so kompliziert, wie die großen Köpfe sie immer darstellen. Thekla lebte in einer Zeit, in der sich viele der Probleme, die einem die Weltlichkeit stellt, lösen ließen, wenn man nur gewillt war, nach deren Regeln zu spielen – und das hieß nicht, dass man als Mitspielende nicht auch willens sein konnte, die Welt zu ändern. Nur wie?

Doch wäre die Begebenheit Thekla wohl kaum Stoff für eine Geschichte geworden, wenn dieses äußere Streben Theklas ungestört so weitergegangen wäre. Wie gerne würde sie, ähnlich Ernst Bloch, sagen können: „Eines Tages blieb ich bei einem Spaziergang stehen und da fuhr es in mich wie ein Blitz.“ Wie schön wäre diese Gewissheit, dass die Veränderung zu diesem einen Zeitpunkt eingetreten sei: ein bestimmter Tag, vielleicht im November und – ja! – mit einer genauen Uhrzeit versehen: 10:07 Uhr, vormittags, bei klarem Himmel. Dann hätte man es einmal festgemacht, rückwirkend vorhersehen und damit erklären können. – Doch so war es nicht.

Sie fand sich eines Tages einfach bereits stehengeblieben vor. Vor ihr nur noch Meer, das Wasser stand ihr bereits bis zum Hals und als sie sich umdreht – sieht sie die Welle ihr Eiland nehmen: ein Moment, an dem sie sich hätte festhalten können, um den anderen fällt; keiner hält ihr stand. Und auch der Aufprall, den es ja gegeben haben musste, lag schon in der Vergangenheit. Sie konnte sich kaum fragen „Warum trifft es mich?“, auf ihre Situation passte vielmehr: „Warum hatte es mich getroffen?“ – doch eine Antwort erhält sie nicht.

Jetzt war sie nur noch Zuschauerin. Und als erstes nahm die Welle Ivan.

An einem Wochenende war sie im Englischen Garten in München spazieren gegangen und meinte in der Ferne Ivan zu sehen – und schon fand sie sich, ihn meidend, auf einen andere Weg gewechselt. Da musste sie so 28 Jahre alt und es ganz sicher schon so gewesen sein.

Sie wusste noch genau, wie sie auf diesem anderen Weg an ihre Kollegin, die immer sagte, dass sie Menschen dabei half, finanziell frei zu werden, dachte – dass sie an die Kollegin dachte, vor der sie sich zurückzog. Kurz nach der Nicht-Begegnung mit Ivan hatte sie damit angefangen, sich in einem Verein für Geflüchtete aus der Ukraine zu engagieren. Für eine Wochenend-Veranstaltung des Vereins hatte sie dutzende Fragekarten für eine Art kulturelles Speeddating entworfen: “Was ist dein Lieblingsfest und warum?”, “Welche Musik hörst du gerne?”, “Worum geht es in deiner liebsten Trash-TV-Show?”, …

Ob Ivan wohl geflüchtet war? An diesem Wochenende war er auf jeden Fall zu ihrer Erleichterung nicht gekommen. Das Wochenende mit den Geflüchteten war schön gewesen, doch stand sie etwas neben sich. Sie hatte sich gefragt, wie lange sie schon nicht mehr mit fremden Menschen Ukrainisch gesprochen hatte, ja sich sogar gewundert, dass die Leute hier nichts Besseres zu tun hatten, als zu dieser Veranstaltung zu gehen; warum die Kinder so wenig Deutsch sprachen, ob die Erwachsenen wohl nur lachten, um ihren Kindern ein gutes Vorbild zu sein, wie leicht ihnen das Wort „lieben“ über die Lippen ging. All sowas. Doch: Natürlich behielt sie solche Fragen für sich.

Und die Welle rückte weiter vor – also zurück: Warum war sie, von der man sagte, dass sie eines Tages so schön und schlagfertig wie ihre Großmutter werden würde, ausgerechnet nach Schottland in die Highlands gegangen – auch wenn es nur für ein paar Wochen gewesen war? Dafür musste es doch einen Anlass gegeben haben, irgendeinen Auslöser. Das war doch gerade kein Blitz aus heiterem Himmel gewesen. Ja, war da nicht der Traum gewesen? Sie hatte ihn sogar aufgeschrieben.

Ihr Jugendzimmer, eigentlich im höchsten Stockwerk eines Hochhauses, war in diesem Traum eine kleine Hütte mitten in einer altertümlichen Siedlung gewesen. Zwischen den Hütten der Siedlung war es grün. Gern ging sie raus – von Heim zu Heim. Eine dieser Hütten gehörte ihrem Großvater, viele der anderen ihren Freundinnen und Freunden. Doch war es draußen nun windiger geworden. Das Klima hatte sich verändert. Und mal wieder drohte ein Sturm aufzuziehen, als sie auf die fast elfenhaft schöne Frau aufmerksam wurde, die hier in ihrem Zimmer stand. Die Frau lächelte freundlich und gab ihr eine ihrer eigenen kleinen Hundefiguren – wie als großmütiges Geschenk. Auf diese Unstimmigkeit hätte sie die Frau direkt zu Beginn aufmerksam machen müssen: dass es durchaus nett von ihr war, dass sie ihr die Hundefigur gab, dass das aber eine ihrer Hundefiguren sei und es nicht anginge, dass sie doch so tat, als würde sie, Thekla, die sie die rechtmäßige Besitzerin dieser Figuren war (die meisten von ihnen hatte sie sogar mit ihrem eigenen Taschengeld erworben), diese Figur nun als Geschenk von ihr, einer zwar schön anzusehenden, aber nichtsdestotrotz ohne zu fragen in ihr Leben eingedrungenen Frau entgegen nehmen – das entsprach schlicht nicht der Wirklichkeit; auch sollte sie sagen, dass das ganz zu schweigen von all dem Rest ihr Zimmer ist und sie als fremde, äußerst erklärungsbedürftige Frau vielleicht, so sie mit der gebotenen Achtung der Lage fragte, hier für eine Nacht Unterschlupf bekommen könnte, dass ihre zufällige Anwesenheit, jetzt hier in Theklas Zimmer, an den Verhältnissen bei ihr zuhause aber nichts änderte. Doch was sah sie sich tun? In naiv-kindlichem Vertrauen nahm sie die Figur wie als Geschenk entgegen. Und während sie innerlich noch den Kopf über sich schüttelte, ging die Frau los … und öffnete das Fenster. Thekla wusste, dass sie hier natürlich sofort aufspringen sollte, die Frau zur Seite schieben und das Fenster zuschlagen und verriegeln. Bei solch einem Sturm ließ man die Fenster geschlossen und zog auch noch die Vorhänge zu, um die Fratzen nicht zu sehen, die draußen durch den Sturm liefen. Die ganze Siedlung wusste das. Jedes Kind wusste das. Doch was sah sie sich tun? Sie sah die Frau nur verdutzt an. Sekunden über Sekunden. Und in der Zwischenzeit kam der Sturm ins Zimmer. Nicht einfach nur als Luftzug oder Wirbelwindchen, das hineinkommt und hier drinnen die Dinge mal ein wenig umkrempelt. Nein, wie ein Sandstrahl, welcher in den Wüsten auch Gestein verformt und erbarmungslos abreibt – wie ein von einem bösartigen Geist befallenes Druckstrahlgerät, das geradewegs auf die Hundefigur in ihren Händen losging. Und als Thekla sich endlich aus ihrer Starre löste, auf die Figur blickte, war von dem schönen Mischling kaum mehr übrig, als ein abgeschliffener, unförmiger Holzstumpf, eine Masse, ein unförmiges Ding. Der Sand hatte ihn abgeschabt, sodass gar nichts mehr von seiner eigentlichen Maserung, gar nichts mehr von dem, was der herzliche alte Mann dem einfachen Stück Holz einst entrungen hatte, zu erkennen war. – Voller Entsetzen, voller Sorge sprang Thekla auf – so schnell sie konnte rannte sie zu der Nische, wo ihre liebste Hundefigur versteckt lag. Weinend wirft sie sich über die Figur. Im Fliegen sieht sie gar nicht, ob die Figur noch da ist oder nicht, ob sie bereits eben so abgerieben ist wie die andere oder ob sie noch zu retten war – und in dieser Stellung wacht sie auf: zusammengekrümmt, wie um etwas zu schützen; weinend, den unermesslichen Verlust voraussehend.

Als sie diesen Traum gehabt hatte, musste Thekla so … 23 Jahre alt gewesen sein. Sie war gerade Praktikantin gewesen. Danach war sie in die Highlands gegangen. Dann der Abschluss ihres Studiums, ihre Kollegin, Befremden hier, sie anfallende Fragen dort, dann ihr Aufstieg: Level um Level – und das ohne die Ellbogen, die überall von ihr erwartet wurden. Komplimente für ihre Outfits. Sie wusste, wenn sie so weitermachte, könnte sie es sogar eines Tages zur Partnerin schaffen, ja sie würde es teils trotz ihres ehrlichen Umgangs mit den Menschen zur Partnerin schaffen, das heißt, sie würde es zu einer guten Partnerin, einer wie sie die Welt brauchte, schaffen. – Und dann Ivan, wie sie ihn im Park mied. Dann wieder ihre Kollegin. Die Highlands. Der Traum. Was war vor dem Traum gewesen? Sie war doch so überzeugt von ihrem Weg und seiner Richtigkeit gewesen.

Thekla schaut aus dem Fenster ihrer neuen Wohnung im fünften Stock. Draußen stürmt es. Und ihr ist es, als hörte sie die Frau aus dem Traum, heute, mehr als sechs Jahre später, noch immer lachen. Jetzt hat Thekla bereits Tränen in den Augen, als sie der Welle weiter zusieht. Wie sollte sie irgendeine Form von Leidenschaft aufrecht erhalten, wenn alles fiel, wenn alles, was sie doch mal gewesen war! (oder nicht?), genommen wurde? Irgendetwas musste doch Bestand haben?

Dann war da der Balkon ihrer Eltern. Vom Balkon der Wohnung ihrer Eltern aus hatte sie nicht nur einen guten Blick auf die Stadt gehabt, prägender waren für sie die Geräusche der Stadt gewesen – die Straßenbahn und natürlich die Autos, aber auch der Fußballplatz, der Spielplatz mit der Schaukel und die Nachbarschaft – wo man sich laut stritt, freudig lachte und überall Wäsche auf den Balkonen hing. Und zwischen all dem standen viele Linden und Pappeln, die ihr im Sommer eine laufende Nase beschert hatten. In einem der Hochhäuser gegenüber hatte ihr Großvater gewohnt: in seiner Rente hatte er seine Liebe zur klassischen Musik wiederentdeckt. Oft schienen seine liebsten Pianisten nach einem ihrer Besuche bei ihm danach zurück auf dem Balkon weiterzuspielen – nicht wie bei einem Ohrwurm, bei dem eine prägnante Stelle sich wieder- und wiederholte, nein, sie spielten weiter: etwas Neues, als würden sie sich in ihrem Kopf erlauben, sich zu versuchen, den großen Wurf zu wagen. Glücklich, eine originelle Musik im Ohr schaut das Mädchen an sich herab, sieht sich verdutzt in fremden Schuhen stecken und diese Schuhe im Wasser stehen. Sie will sich gerade umdrehen, als die Wassermassen mit all ihrer Erbarmungslosigkeit die Balkontür sprengen – und das Mädchen wird nach vorne geschleudert.

Und damit fällt auch Thekla.


Letztlich wird eine fleißige, junge, meist auf Mitte zwanzig geschätzte Frau von einem weichen Bett aufgefangen. Sie weint und greift zum Smartphone; schluchzt, aber die Fragen haben aufgehört, das Wasser kommt zum Stillstand. Eine Kollegin hatte neulich etwas mit ihr geteilt: Laut einer Studie verläuft die Zufriedenheit im Leben U-förmig: In der Kindheit und Jugend ist man recht glücklich, dann wird man bis zur Mitte des Lebens unglücklicher, danach wird es wieder besser. Auf Instagram läuft ein kurzer Clip über Selbstakzeptanz und Erfolg als Frau. Darin spricht eine ihrer liebsten Influencerinnen über die Bedeutung von innerer Stärke, darüber dass man sich von gesellschaftlichen Erwartungen nicht unter Druck setzen lassen sollte. Es folgt ein Video von ihrer Jugendfreundin Katya, die mit ihrem kleinen Sohn im Park spielt. Sie wirkt glücklich. Der Kleine ist süß. Zwei Anzeigen für Naturkosmetik werden weggeklickt, dann kommt eine Story von dem Verein für Geflüchtetenhilfe, bei dem sie damals ausgeholfen hatte. In wenigen Tagen würde sie dreißig werden. Gemäß dieser Statistik würde eine Dreißigjährige noch etwa zwölf Jahre durchhalten müssen, solange würde es noch bergab gehen – dann aber, ja dann, hätte sie den Tiefpunkt erreicht. Aber vielleicht war sie ja auch schon etwas weiter als ihre Kolleg:innen?, vielleicht würde es in fünf oder sieben Jahren schon wieder beginnen, bergauf zu gehen?