In Deutschland haben wir eine Steuerprogression: je mehr Einkommen eine Person erwirtschaftet, desto höher ist nicht nur die Steuer, die diese Person zahlen muss, sondern auch ihr relativer Steuersatz. Für Paare gibt es zudem die Möglichkeit sich für eine Zusammenveranlagung zu entscheiden: d.h. u.a. dass Frei- und Pauschbeträge verdoppelt werden (z.B. beträgt der Grundfreibetrag für die Einkommenssteuer 2023 10.908 € (2023c), zusammenveranlagt also: 21.816 €) (vgl. 2023b). Aufgrund der Steuerprogression lohnt sich diese Zusammenveranlagung vor allem, wenn es Einkommensunterschiede zwischen den beiden steuergenerierenden Einheiten (Menschen) gibt: Die mehr verdienende Person rutscht dann sozusagen in eine niedrigere Steuerklasse, die weniger verdienende in eine höhere Steuerklasse, was zusammenveranlagt einen Steuervorteil ergibt. Grundsätzlich ist dieser Effekt größer, je größer die Einkommensdiskrepanz ist (am stärksten ist der Effekt, wenn eine Person gar nicht oder “nur” Teilzeit arbeitet; vgl. 2023b): der:die weniger verdienende Partner:in hat also einen steuerlichen Anreiz weniger zu arbeiten, wenn dafür die andere Person mehr arbeitet. Mitunter wird deswegen entschieden, dass die weniger Einkommen generierende Person die mehr Einkommen generierende Person durch sogenannte Care-Arbeiten (z.B. den Haushalt zu übernehmen, sich um Großeltern oder Kinder zu kümmern, den Hund zum Tierarzt zu fahren) entlastet, damit sich die mehr Einkommen generierende Person voll auf ihre Arbeit konzentrieren kann. 

Warum ich dieses Beispiel mit Hinblick auf die Unabweisbarkeit ethischer Fragen erwähnenswert finde

Mit Blick auf den Abschnitt Die Unabweisbarkeit ethischer Fragen in Kritik von Lebensformen von Rahel Jaeggi finde ich dieses zugegebenermaßen etwas technische Beispiel erwähnenswert, weil: 

I – Verstetigung bestimmter Rollenbilder & Einkommensunterschiede  

  1. Frauen erhalten damit in heteronormativen Beziehungen einen recht klaren gesellschaftlichen Anreiz, eher zuhause zu bleiben (z.B. wenn das Paar Kinder bekommt (um keine “Rabenmutter” zu sein, etc. pp.), aber auch weil sie sich oftmals eher ((u.a.?) aufgrund jener Anreize) für den Haushalt verantwortlich fühlen).  
  2. Zudem verdienten “Frauen mit vergleichbaren Qualifikationen, Tätigkeiten und Erwerbsbiografien wie Männer [im Jahr 2022] im Schnitt 7 % weniger pro Stunde als ihre männlichen Kollegen” (2023a). Sie sind also auch bei gleicher Qualifikation oft die weniger verdienende Partnerin.  
  3. Zuletzt (dies nur eine vielleicht haltlose These) mag u.a. aufgrund tradierter Rollenbilder den männlichen Kollegen in ihrer Partnerschaft wichtiger sein, der mehr verdienende Partner zu sein; es mag hinzukommen, dass gesellschaftliche Kräfte den Wert dieser Männer verglichen mit Frauen eher an ihrem Jahreseinkommen als an anderen Faktoren festmachen. Konkret meine ich: In einer heteronormativen Beziehung mag eine schöne, fürsorgliche Mutter mit einem wohl gepflegten Freund:innenkreis eher signalisiert bekommen, “es schon richtig zu machen” (… oder es zumindest im Großen und Ganzen nicht komplett falsch) als ein gut aussehender (sic), fürsorglicher Vater mit einem wohl gepflegten Freund:innenkreis. (Vermutlich ist das auch wieder im Begriff sich zu verändern, wodurch Frauen in (eine weitere) Double Bind (vgl. 1983) Situation geraten.)

In Summe wird so, so scheint mir, ein Anreiz dafür geliefert, dass Frauen eher zuhause bleiben als Männer, weniger Karriere machen und damit ein Anreiz dafür geliefert, dass das Rollenbild reproduziert wird, dass “der Mann das Geld verdient, die Frau zuhause bleibt”. 

II – Die Lebensformen “wir sind ein Paar” werden begünstigt

Und natürlich werden damit die Lebensformen, die als Paar zusammenleben, gegenüber bspw. Alleinerziehenden (zumeist auch weiblich), aber auch polygam lebenden Menschen bevorzugt behandelt.

Was das bedeutet(e)

Vielleicht ist was ich geschrieben habe falsch, da ich die Definition von Lebensformen noch nicht kenne.* Ich verstehe diesen Sachverhalt aber als ein Beispiel für den institutionellen Rahmen, den der Staat setzt, wodurch er die Bedingungen schafft, gegeben derer sich Lebensformen entwickeln. Außerdem möchte ich explizit darauf hinweisen, dass hier kein Urteil darüber gefällt wird, diese oder jene Lebensform besser oder schlechter zu heißen. Vielleicht wollen wir, dass es eher Paare als Alleinerziehende gibt, dass es eher Paare als polygam lebende Menschen gibt und dass Frauen eher zuhause bleiben, unbezahlte Care-Arbeit erledigen (d.h. z.B. sich um das Abendessen, den Hund, die Kinder, die Reinigung der Toilette, die Toilette der pflegebedürftigen Großeltern usw. kümmern) und damit in heteronormativen Beziehungen oft abhängig von ihren Männern sind. Im Glauben an eine deliberative Demokratie sollen wir die Bevorzugung bestimmter Lebensformen dann aber wohl zumindest transparent machen und diskutieren. (So verstehe ich bisher auch Jaeggi.)

Zuletzt bleibt mir noch zu sagen, dass ich kein Steuerexperte bin (insofern sind alle Angaben ohne Gewähr), sowie die Quellen für das Geschriebene anzugeben: 

Quellenangabe


Geschrieben als zu lang gewordene und unbenotete Reflexion im Rahmen des Seminars Sozialkritik und soziale Wandel an der LMU im Wintersemester 23/24. Dort lesen wir unter anderem die Kritik von Lebensformen. Dieses Beispiel kam mir dabei in den Sinn.

Und hier kann ich auch mal wieder Marco drunter setzen.

Marco

Fußnote

* Die Definition von Lebensformen und was genau darunter zu verstehen ist, kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, da wir bisher nur die Einleitung des Buchs gelesen haben.