Vor dem großen walähnlichen Geschöpf stehend fühlt sich Lydia … geborgen. Riesige, freundliche Augen lächeln sie an, eine mit allerlei Gräsern und Pflanzen versehene Haut breitet sich vor ihr aus, dass sie an eine felder- und hügelreiche Landschaft denken muss, und dazwischen ragt ein großer, weit geöffneter Mund hervor. Dieser ähnelt bei näherem Hinsehen einem Spiegel; einem hohen, an beiden Seiten mittig von zwei stählernen Armen gehaltenen Spiegel – wie er in den Zimmern von Prinzessinnen zu finden ist. An das obere Ende des Spiegels käme sie zwar nicht ran, aber von unten ließe er sich in seiner Fassung leicht, ja sehr leicht um die eigene Achse drehen bis sich die Rückseite zeige. … Dann wieder die Vorderseite, die Rückseite, Vorder-, Rückseite, Vorder-, Rück-, immer und immer schneller.
Lydia fasste den Mund-Spiegel zunächst also besser einmal nicht an, stand nur ängstlich aber auch ein wenig fasziniert vor ihm und blickte in sein weiches, leicht durchscheinendes Schwarz.
Für ein paar Sekunden ist da auch der Gedanke an eine Geschichte, die sie vor heute fast zehn Jahren angefangen hatte und welche für ihre beiden Charaktere genau an dem Punkt (vor so einem Spiegel mitten in einer großen Wüste) geendet hatte… weil sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Die Geschichte war ihr entglitten und in der Wüste, mitten im Nichts angekommen.
Jetzt, zehn Jahre (und einige, zugegebenermaßen halbherzige Versuche die Geschichte weiterzuschreiben) später, stand nun also sie an dem selben Punkt wie ihre zurückgelassenen, fast vergessenen Charaktere: vor dem Spiegel. Man sollte meinen, dass sie jetzt ein unangenehmes Gefühl überkäme: aber nein.
Immerhin war der Spiegel Teil des friedlebenden Wals und der trieb gelassen, ungerührt von all ihren Ängsten auf der Meeresoberfläche. Auch … ging es für sie, anders als für ihre Charaktere („bisher!“, fügt sie hinzu) jetzt weiter. Doch anders als ihre Charaktere wurde sie nicht in den Spiegel, in einen unterirdischen Komplex mit allerlei Jim Knopf Lokomotiven und Tümpeln gezogen. Stattdessen druckte ihr der Spiegel einen Lebenslauf aus; einen Lebenslauf, der dem eines der vielen Kandidat:Innen, die sie tagein tagaus in ihrem leider wenig abwechslungsreichen Alltag sah, sein könnte… … sein könnte … vielleicht auch ein Bewerbungsschreiben… aber sein könnte, wenn er nicht gänzlich am Thema, an seiner beruflichen Expertise und der Stellenausschreibungen ihrer Firma, vorbeireden würde…
Wohlformatierte PDF-Datei
„Bezüglich der Anstellung in Ihrem Unternehmen
Sehr geehrte Frau Zwetrizna,
ich kann verstehen, dass Ihnen und Ihrem Unternehmen daran gelegen ist, dass ich Ihnen hier mein Leben wie einen mit dem Eintritt in meine Universitätslaufbahn startenden und bis heute fortlaufenden Film präsentiere; einen Film, dem Sie eben so leicht folgen können, wie Sie ihn weiter vorausahnen können und der Ihnen dann mich, gewissenhaft arbeitend auf einem ergonomischen Stuhl [1] in Ihrem Unternehmen zeigt.
Leider gestattet mir eine Art innere Neigung das nicht… Ihnen meinen Lebenslauf auf diese Weise zu präsentieren.
Stattdessen möchte ich Sie auf etwas hinweisen, das mir gerade heute bei einer Ausstellung des, sicherlich von uns beiden geschätzten [2], Künstlers Alexander Dubowik (Александр Дубовик), genauer bei seiner Serie „der große Rat“ („Велика рада“), wieder aufgefallen war: Künstler haben wohl schon immer Serien von ein und dem selben Motiv gemalt.
Und mein heutiger Gedanke war, dass, wenn diese Herangehensweise bisher in einer Zeit gedrängt hat, es wohl die unsere ist. Anstelle eines, für eine mit einer schnellen Auffassungsgabe gesegneten Recruiterin wie Sie, schnell und mit hinreichender Gewissheit vorspulbaren Lebenslauf möchte ich Ihnen daher lieber ein Motiv, wie sich nur wenig unterscheidende Bilder einer Serie, nahebringen.
Sie sehen den Unterschied? In meinem Lebenslauf liegt mein Universitätseintritt als eine Station in einer heute fast fernen Vergangenheit mit so vielem das seitdem geschehen ist und das sich bereits als Zukunft abzeichnet; während etwas Vergangenes über Jahre, ja Jahrhunderte hinweg zu Ihnen kommt, wenn ich es Ihnen nur irgendwie vergegenwärtige: Um mit einem mir immer wieder gegenwärtigen großen Denker zu sprechen: „was ist es der Mühe wert, dasjenige Vergangene in die Erinnerung zu rufen, das nicht zu einem Gegenwärtigen werden kann.“ [3]
Lassen sie uns also daher über ein Motiv sprechen und versuchen es uns zu vergegenwärtigen.
Letzte Woche boten sich mir sogar gleich zwei Begegnungen mit konkreten, wirklichen Käfigen an, die mir an nur einem Tag zuteil wurden. Daher liegt es mir heute nahe über Käfige zu sprechen. Käfige, wie es auch der Wal einem in ihm gefangenen Helden, der ihn dann vielleicht sogar bald für seine Welt hält, einer sein könnte.
Die erste Begegnung
Vor etwa einer Woche stand ich vor einem Vogelkäfig: In ihm saß ein neugieriger, kleiner Turmfalke. (Er hüpfte auf mich zu, als ich zu seinem Käfig kam, daher nenne ich ihn „neugierig“.) Lassen Sie uns seinen Käfig einmal gemeinsam betrachten [4]. Schauen wir uns jede einzelne seiner Stangen genau an, für sich genommen an, können wir die anderen Stangen gar nicht sehen. In diesem kleinteiligen, kurzsichtigen Fokus, könnten wir auch die anderen Stangen, eine um die andere genau unter die Lupe nehmen, daran hoch und runter blicken und wären nicht in der Lage zu sehen, warum der kleine Vogel nicht einfach um die jeweilige Stange herumfliegt, wenn er doch irgendwohin will. Man könnte fast so weit gehen zu sagen: Der Vogel… will in seinem Käfig bleiben, immerhin gibt es nichts, nichts das man auch bei der genausten Betrachtung erkennen würde, das ihn beeinträchtigt oder aufhält loszufliegen.
Wenn wir aber einen Schritt zurück machen, nicht mehr mikroskopisch eine um die andere Stange betrachten, sondern eine makroskopische Perspektive einnehmen und uns den ganzen Käfig ansehen, dann erkennen wir… mit Leichtigkeit, warum der kleine Kerl nicht rauskommt… und dann sehen wir es sofort… es braucht keine tiefgehende Analyse, keinen besonders scharfen Geist… es ist ganz offensichtlich, dass der Vogel umgeben ist von einem Netz aus systematisch verbunden Barrieren, wovon keine für sich genommen auch nur das kleinste Hindernis wäre, um seine Falken-Flügel auszubreiten und zu fliegen… sich hoch in die Lüfte zu begeben, auf uns kleine Menschen wie leckere Mäuse hinabzusehen. Doch in ihrer Verbindung sind die Stangen und Drähte so erfolgreich, ihn einzugrenzen, dass sie genauso gut die dicken Mauern eines Gefängnisses sein könnten.
Nun… lassen Sie uns hier aber einmal einen kurzen Halt machen. Denn ich muss Ihnen sagen, ich sprach auch ein wenig mit meinem kleinen Freund und er wusste sehr wohl Bescheid über seine … eher missliche Lage – ja, er hätte mir etwas gepfiffen, wenn ich ihm hätte unterstellen wollen, dass er nicht vom freien Fluge träumte und nicht wüsste, dass er doch in einem Käfig saß. Und ich würde meinen, dass es unsereins doch zumindest einmal genauso geht: Wir sind uns unserer Lage doch zumindest einmal bewusst, wenn wir sie auch nicht genau erklären können. Und wer es nicht ist, froh ist zeitig und reichlich gefüttert zu werden, hat kaum Grund sich zu beschweren, in seinem, zumindest wohlbehüteten Käfig zu sitzen. Wer sich seiner Lage allerdings bewusst ist und wer so viel Freiheitsdrang in sich trägt, dass die Lage ihn stört, den kann sie schon einmal zum Verzweifeln bringen. (Nicht so übrigens meinen kleinen Freund, so viel kann ich Ihnen versichern. Er hat auf seine Art eine geradezu stoische Ruhe und Gelassenheit entwickelt. Und das, obwohl es ihn doch nach Freiheit dürstet wie wenige … aber damit wollen wir uns nicht weiter aufhalten und fortschreiten zur zweiten Begegnung.)
Die zweite Begegnung
Das zweite Mal begegnete mir der Käfig noch am selben Tag, an dem ich auch vor meinem neugierigen Freund gestanden war. Und nur dieser zweiten Begegnung habe ich den Käfig als Motiv zu verdanken, weil er mich an einen Essay von Marilyn Frye denken lies, den ich vor nun gut einem Jahr gelesen hatte. Ich war wenige Stunden nach der vorherigen Begegnung in einen Laden… eher eine Mischung aus Galerie und Laden mit allerlei Kleidung, Schmuck, Keramik, Glas- und Metallkunst, Malerei und Bildhauerei und auch mit einigen Büchern… ich war in einen Laden gegangen. Und dort sah ich zwischen vielem anderem Ungewöhnlichen ein Bild.
Auf dem Bild formten einige dicke, schwere, scheinbar mit einem äußerst weichen Bleistift gezogene Linien irgendetwas, das auf den ersten Blick eben auch wie ein Käfig wirkte … genauso gut mochte es aber auch ein Gerüst sein, zwischen das ein … nun … dumpf dreinschauender Kopf mit dicker Nase, ungleichmäßigen Augen und einem kleinen, kaum erkennbaren Mündlein gespannt war. Dieser Kopf bildete das obere Ende des eigentlichen Käfigs und darin erkannte ich eine schemenhafte Gestalt, die mit ein wenig Fantasie ein kleines Vöglein war.
Nachdem ich mir das Bild eines Abends dann bei schlechtem Licht erneut ansah, erkannte ich leicht einen bedrückt zu Boden blickenden Spatz, der in seinem Käfig, wie im unsichtbaren Leib des Körpers gefangen, schwebt. Auf diese zweite Begegnung beschloss ich, ein ganz unbegabter Maler und Zeichner, selbst einige Käfige zu zeichnen. Und das, würde ich behaupten, ist die dritte Begegnung.
Die dritte Begegnung
Ich setzte mich hin, fest entschlossen, eigentlich nicht nur einen sondern gleich mehrere solcher Käfige, wie ihn der Künstler zu Papier gebracht hatte, in meinem Notizbuch zu verewigen. Doch so sehr ich es auch versuchte, kam ich nicht umhin, immer mit dem, ja meinem Kopf anzufangen und brachte es dann nicht über mich, mir meinen eigenen Käfig sehenden Auges und dazu noch mit einiger Mühe und zu meiner eigenen Unzufriedenheit – wie gesagt, ich bin kein besonders talentierter Zeichner – unter meinen Kopf zu schmieren. Ich versuchte mich an einem um den anderen Filmrahmen, die entsprechend meiner Worte meine Käfigstangen sein sollten, doch fiel mir ein ums andere Mal der Stift aus der Hand, wenn sie auch nur begannen, sich so eng aneinander zu reihen, dass es meinem Spatz schwer werden konnte, noch rauszufliegen. Ich genoss es vielmehr, wie mein ebenso plumper Kopf wie derjenige auf dem Käfig des Künstlers, vor meinem inneren Auge etwas zu schauen hatte, wenn der Spatz zum Flug ansetzte und mit seinen kleinen Erzählungen aus dem Reich außerhalb des Notizbuches zurückkehrte.
Also: Nein! Frau Zwetrizna… Ich konnte es wirklich nicht zulassen, mir hier mit einigen festgezurrten Filmrahmen meinen eigenen Käfig zu schaffen. Und so gab ich meinem kleinen Vogel nur das nötigste, grobe Sicherheitsgerüst unter meinen Kopf, um ihn vor den schlimmsten feindlich gesinnten Kreaturen zu schützen. Ich meinte ihm auch einen sicheren Schlafplatz zu geben, doch zu meiner Überraschung war es dann ich, dem sehr bald die Augen zu fielen. Bald wuchsen mir da im Traume Beine und wir beiden gingen auf Reisen. Ich meist eher behäbig; er doch immer sehr behände, vergnüglich, fantasievoll, wie ein aufgewecktes, junges Mädchen und das steckte selbst meinen starren Leib bald noch mit an, sodass auch er zumindest ein wenig … nun weniger starr wurde. Im Winter, wenn es gar nicht mehr anders ging, zeichnete ich ihm dann noch ein paar Kerne und Samen, doch immer nur das Nötigste, weil ich doch wusste, dass es ihm besser gefiel, sich ein paar leckere Würme und Raupen zwischen den Gräsern und Feldern hervor zu picken… oder sich, selbst in der kalten Jahreszeit, erfinderisch seine eigenen Samen und Kerne von Mutter Natur zu stibitzen.
Daher, liebe Frau Zwetrizna, kann ich Ihnen leider keinen Lebenslauf, wie von Ihnen gewünscht zukommen lassen, hoffe aber dennoch auf Ihr Verständnis und freue mich von Ihnen zu hören, zu lesen, wenn Sie sich irgendwie bemerklich machen – hinterlasse in jedem Fall nur die besten Grüße
Ihr Lew Isnutchik (Лев Изнутчук)
[1] Ich bitte sie darum, dies nicht als abschätzige Anmerkung gegenüber ergonomischen Stühlen aufzufassen. Diese schätze ich nämlich, aufgrund meines eher empfindlichen Rückens, sehr.
[2] Im Zuge der Recherche für diese Bewerbung sah ich auf Ihrem LinkedIn-Profil, dass sie dort (neben „Umweltschutz“ und „Bildung“) „Kunst und Kultur“ als eine Ihrer „Themen, die Ihnen wichtig sind“ eingetragen haben.
[3] – Kierkegaard, Søren (1843), Frygt og Bæven [Furcht und Zittern (2005)] (Übers.: Walter Rest, Günter Jungbluth, Rosemarie Lögstrup, Hg.: Hermann Diem, Walter Rest), München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
[4] Ich muss zugeben, dass ich mich bei dieser Beschreibung, gerade weil ich ihre Beschreibung so schön vergegenwärtigend finde, sehr an Marilyn Fryes Aufsatz von 1983 orientiert habe, sie beinahe ausschließlich übersetzt habe.
– Frye, Marilyn. (1983). Oppression (pp. 1-16). „
Zurück in den Bauch
Einmal ausgedruckt, verschluckte die untere Seite des Spiegels die … in dieser, ihrer fantastischen Welt … nun sehr lebensnahen Worte. Und Lydia schaute wieder in die großen, noch immer gelassenen Augen des Wals, die sie wieder beruhigten und es schien ihr, sie funkelten verschmitzt … irgendwie zufrieden … mit ihr (?), als er sie wieder verschluckte, in sich und seinen Bauch aufnahm.
Marco
Kommentare von Marco Zander