Der Himmel verdunkelt sich bereits, als ich den alten Pfad hin zur großen Eiche einschlage. Der Baum ragt hoch hinauf, mit beiden Armen kann ich den Stamm nicht umfassen; kalt strömt die Luft meinen Nacken entlang während die kleinen Steinchen unter meinen Füßen knirschen. Bei jedem Schritt spüre ich, wie ich tiefer in meine Gedankenwelt eintauche.
Mein Bruder schwebt ständig in meinem Kopf herum, wie ein Godspeed You! Black Emperor-Song, dessen sich über mehrere Minuten entwickelnde Themen und musikalische Strukturen mich nach einmaligem Hören, wie in einem sonst meist übertönten Hinterohr, häufig noch den ganzen Tag über begleiten. Es ist nicht nur seine Fähigkeit, das Handwerk zu meistern oder sein angeborener Sinn für Ästhetik. Es ist seine Art, im Leben zu stehen, scheinbar immer um seinen Platz in der Welt wissend, während ich – auch mit jetzt 27 Jahren – noch nicht den Hauch einer Ahnung habe, wer ich bin. So lange ich auch in eine Richtung horche: Es wartet keine Musik auf mich, nur dieses leise verhallende Echo eines anderen.
Der Gedanke, dass ich nie so sein kann wie er, schmerzt. Es ist nicht so, dass ich ihn beneide: Wie könnte ich jemanden beneiden, den ich liebe? Und doch will ich zumindest ein bisschen mehr so sein wie er. Ich will die Dinge mit dem Ernst angehen können, den er immerzu in jeden Handgriff legt. Ich frage mich, wie es sich anfühlt, wenn jeder Schritt, den man macht, bereits vom Ende her gedacht ist: eine nach vorne gerichtete Erinnerung, die nicht immer dem Neuen nacheifert, sondern stets das Alte vor sich hat.
Der Wind streicht durch die Blätter der Eiche und bringt das stille Rauschen eines ganzen Waldes mit sich. Ich lausche dem Klang und spüre, wie er meine Gedanken wegträgt. Dann atme ich tief durch. Wie gerne würde ich Tobi jetzt anrufen.
Anbohren
Es ist Sonntagvormittag. Auf der Suche nach dem dicksten Punkt dieses ohnehin schon massiven Balkens wiederhole ich in meinem Kopf seine Worte: „Angebohrt wird dort, wo es am dicksten ist.“ Gleichzeitig suchen meine Fingerspitzen den Punkt, an dem die Dichte des Holzes sich am stärksten anfühlt. Mit geschlossenen Augen streiche ich über die Oberfläche, fühle die Maserung, die Unebenheiten und die winzigen Kratzer. Es ist der Dachbalken eines Hauses, das mein Haus werden wird: So viele Arbeiten wie möglich versuche ich selbst zu erledigen und ich bin stolz: Es ist mein Projekt und ich sehe, wie es nach und nach Form annimmt.
Dann greife ich nach dem abgenutzten Griff meines Handbohrers, den Tobi extra für mich gefertigt hat – und setze an. Während ich bohre, schweifen meine Gedanken zu einer Erinnerung an ihn:
Erinnerung – Holzfigur
Mein Bruder sitzt vor mir, konzentriert beugt er sich über eine mit ihren schulterlangen Haaren zwischen männlich und weiblich schwebende Holzfigur. Das Kreuz auf ihrem Rücken wirkt wie eingesunken in ihr hölzernes Fleisch. Obwohl unser Vater Tobi kürzlich neues Werkzeug zum Geburtstag geschenkt hat, verwendet er für alle Arbeiten, die ihm wirklich am Herz liegen, das alte Schnitzmesser unseres Großvaters. Sein Gesicht zeigt tiefe Konzentration und eine Art innere Ruhe, die ich immer bewunderte. Jeder Schnitt, jede Formgebung hat seinen Grund, jede Kurve des Holzes wird präzise geschnitzt – und doch ist ihm von Anfang an klar, wie die Figur am Ende aussehen wird und wie sie sich in die Reihe auf dem Regal einfügen wird.
Nachdem er fertig ist, stellt er die Figur ganz rechts neben drei weitere, dann setzt er sich neben mich. In diesen Jahren ist das einer der wenigen Momente, an denen ich ihn glücklich erlebt habe. Ich betrachte erst ihn, dann die Figuren, dann wieder ihn mit staunenden Augen – ein wenig später ist die Freude auch wieder aus seinem Blick verschwunden. „Das Problem“, sagte er mit sanfter Stimme, „ist eigentlich, dass mittlerweile alles viel zu einfach ist.“ Nach einer kurzen Pause und fügt er hinzu: „Und statt ein wenig Zeit und ein Messer in die Hand zu nehmen, kaufen die Leute irgendwo einen Teddybär.“ Er seufzt leicht und blickt auf die filigran gearbeiteten Holzfiguren. Eine Weile sitzen wir noch einfach da, schweigen. Irgendwann umarmt er mich – er riecht nach Kiefer. Immer wieder war mir danach aufgefallen, dass sogar sein Schweiß, wie der unseres Großvaters, eine Note Kiefer trug.
Dass mein Bohrer seine Arbeit jetzt getan hat, bringt mich wieder in die Gegenwart zurück und ich ziehe ihn langsam aus dem Dachbalken zurück. Das frisch gebohrte Loch ist sauber und genau.
Im Schatten der Solarpanele
Um 5:30 Uhr klingelt mein Handy mich wach. Ich drücke nicht auf Snooze, gönne mir aber noch fünf Minuten im Bett. Der Vaterschaftsurlaub eines Freundes hat nach mehr als fünf Jahren dazu geführt, dass ich mal wieder regelmäßig auf einer Baustelle stehe. Das Aufstehen vor 7 Uhr war damals ein Kampf für mich und ist es heute noch. Irgendein Teil von mir kann sich einfach nicht daran gewöhnen. Und so fühlt sich die Welt so früh weiterhin einfach noch nicht richtig an. Was soll das alles?
Sobald ich ein paar Minuten in die Pedale meines Fahrrads getreten habe, fühle ich mich aber wacher. Pünktlich um kurz vor 7 Uhr erreiche ich die Baustelle.
Noch ist die Sonne halbwegs erträglich, ihre Strahlen glitzern auf den Metallteilen der Gerüste und Werkzeuge. Ohne meine Kollegen wäre die Kleinstadt friedlich und still; die Baustelle würde wie ausgestorben wirken. Doch sobald wir beginnen, in die Dachsparren zu bohren, reißen wir sie unsanft aus dem Schlaf. Dann ist die Baustelle von einer rohen Energie erfüllt. Das war damals so und heute ist es nicht anders. An diesem Tag stelle ich mir zudem vor, wie es wäre, wenn wir statt mit unseren Maschinen alle mit unseren Handbohrern ankämen – das sanfte Ächzen des Holzes, das die Stadt auf eine liebevollere Weise weckte. Doch hier, in dieser Umgebung sind Handbohrer fehl am Platz.
Und ich … eben auch.
Ob es die abschätzigen Bemerkungen sind, die behaupten, Frauen hätten hier nichts verloren, oder die scherzhaften Kommentare über die Größe meiner Hände im Vergleich zu den Werkzeugen … und im Sommer scheinen Kommentare, dass ich mich, wie meine männlichen Kollegen, doch auch mal frei machen sollte, ihren Witz einfach nicht zu verlieren. All das führt dazu, dass ich mich an einem Ort, den ich dennoch irgendwie mag, und mit einer Tätigkeit, die mir besser gefällt als jeder Bürojob, anfangs jedes Mal schlecht gefühlt habe, wenn ich an der aktuellen Baustelle angekommen bin. Es ist, als würde einem immer jemand zuflüstern: „Das hier solltest du nicht tun. Sei Social Media Managerin oder sowas, sei meinetwegen Designerin oder geh in die Forschung, aber hier gehörst du nicht hin.“ Und obwohl die nicht passenden Schuhe, die schlecht sitzende Arbeitskleidung und das überdimensionierte Werkzeug, ja sogar die Ziegel, die in eine durchschnittliche Männerhand natürlich viel besser passen als in meine, ständige Erinnerungen daran sind, dass diese Welt noch mehr als die ganze restliche eigentlich für den Durchschnittsmensch – d.h. einen gut 1,75 m großen, 70 kg schweren Mann – gemacht ist, hat ein besonders heißer Sommertag vor jetzt mehr als fünf Jahren eine Veränderung für mich markiert. Nach meinem abgebrochenen Psychologie-Studium wollte ich erstmal etwas Geld verdienen und etwas maximal anderes machen: also habe ich mir einen Job auf der Baustelle gesucht und nebenher versucht, mir möglichst viel Wissen über Elektrotechnik anzueignen. Mit gerade zwanzig Jahren war ich dann für etwa zwei Jahre auf der Baustelle und der heiße Sommertag muss etwa sechs Monate into it gewesen sein:
Noch eine Erinnerung: Ilja – und ein heißer Sommertag
In einer kleinen Pause begann ich mit Ilja, einem unserer erfahrensten Techniker, über eine in dem Projekt benötigte, spezielle Verkabelung zu sprechen. Ich schlug eine alternative Methode vor, um die Panels gegeben des ungewöhnlichen Daches effizienter zu verbinden. Anstatt mich abzuwimmeln oder über meine mangelnde Erfahrung zu spotten, sah er mich nachdenklich an und fragte, ob ich ihm die genaue Idee skizzieren könnte.
Ich zeichnete meine Idee schnell auf ein Stück Papier, erklärte die technischen Details und die potenziellen Vorteile. Ilja nickte schließlich und meinte: „Weißt du was? Das könnte tatsächlich funktionieren. Lass es uns versuchen.“
Nachdem wir meine Methode angewendet hatten, stellte sich heraus, dass wir zwar hier und da noch etwas nachbessern mussten, sie dann aber einwandfrei funktionierte.
Der Tag war schon gelaufen, da lief ich Ilja nochmal über den Weg, er gab mir die Hand, schaute mir in die Augen und sagte: „Gut gemacht, Kleine. Mach ruhig hin und wieder mal den Mund auf, wenn dir mal wieder so ein großwüchsiger Affe wie ich doof kommt.“
Dieser Moment, als mir dieser bullige, erfahrene, ziemlich autoritär wirkende Mann die Hand gab, mir viel länger als üblich in die Augen blickte als würde er herausfinden wollen, wer sich dahinter verbarg und alles so wirkte, als würde ich nicht „für eine Frau schon was können“, sondern dass er mich auch als Fachkraft ernst nahm, war ein Wendepunkt für mich. Hier war jemand, der sich wirklich auskannte und seit Jahren mit den Kabeln, Metall- und Holzteilen arbeitete – und er respektierte mich. Von da an hatten die Kommentare einen Teil ihres Biss‘ verloren und ich konnte sie besser ignorieren.
Ilja, dessen Eltern aus Russland eingewandert waren, und ich sind von da an in Kontakt geblieben. Unter meinen männlichen Kollegen fällt Ilja, anders als Tobi, nicht durch Zurückhaltung oder dergleichen auf: Er ist laut, wie die anderen, unterbricht, wie die anderen, isst und trinkt, wie die anderen. Und wenn es etwas zu entscheiden gibt, dann orientiert man sich wie selbstverständlich an ihm.
Zu zweit ist er aber ein guter Zuhörer: Ich befürchtete, dass er mir zuhörte lag zumindest anfangs auch daran, dass ich ja ein Jahr studiert hatte (abgebrochen oder nicht, spielt kaum eine Rolle) – etwas, das für ihn nie infrage käme: Er hatte seine Mittlere Reife gemacht und für mehr reicht es (nach ihm) auch nicht. Später sagte er mir allerdings, dass er auch deswegen das Gespräch mit mir gesucht hatte, weil ich nicht nach ein paar Wochen, wie er vermutet hatte, die Baustelle wieder verließ. So hatte er sich gefragt, was in einem Mädchen vorging, das sich so verbissen in den Kopf gesetzt hatte, auf einer Baustelle zu arbeiten.
Als wir das erste Mal sprachen war Ilja Anfang dreißig gewesen, hatte gerade eine deutsche Frau kennengelernt und mich während der Arbeit hin und wieder nach Rat bzgl. seiner Beziehung gefragt: Was erwartet sie? Daraufhin fragte ich ihn ein bisschen über seine Freundin aus, wo sie herkam, was sie bisher in ihrem Leben gemacht hatte, wer ihre Eltern waren und wofür sie sich interessierte und versuchte ihm ihren Standpunkt näherzubringen. Mitunter verband ich das mit ein paar der Themen, die mir auf dem Bau begegneten; irgendwann problematisierte ich auch das „Kleine“ von damals an dem Sommertag – und von da an war ich Amy, bei ihm, wie auch bei den anderen: Amy.
Heute ist er es, der fünf Monate Vaterschaftsurlaub nimmt, und ich meine, an dieser Entscheidung auch einen gewissen Anteil gehabt zu haben.
Selbstverständlich
Als Kind habe ich Selbstverständlichkeiten immer geliebt. Ich hatte sogar ein kleines Notizbuch, das den Titel „aber natürlich“ trug. Und unser Vater war immer begeistert, wenn ich mit ihm über eine neue Selbstverständlichkeit sprach, die mir aufgefallen war. Trotzdem blieb er der Einzige, mit dem ich darüber sprach. Am Wochenende sind wir oft gemeinsam in die nächste Stadt und die Stadtbibliothek gefahren, anfangs oft um Brettspiele auszuleihen.
Während des Abiturs stieß ich dort auf Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ und der einfache Grundsatz: „Der Mann ist das Absolute, die Frau das Andere.“ begeisterte mich: eine ganze Welt neuer Selbstverständlichkeiten tat sich auf, an der ich mich mit einer Art diebischer Freude ergötzte. Das zufällige Wesen muss sich immer ändern, das Absolute bleibt, so einfach ist das. Wissend, dass es hier um ernste Themen geht, um echte Ungerechtigkeiten, überwog dabei lange einfach diese kindliche Neugier, etwas Neues entdecken zu können. Und oft schien mir dann: Eigentlich braucht es nicht mehr als diesen einen Satz, um alles Weitere, was der Feminismus so hervorgebracht hat zu entdecken.
Die Frau ist irrational, weil hormonell gesteuert, der Mann ist rational, denn seine Hormone sind die Norm. Lugt ein Mann beispielsweise immer wieder auf sich abzeichnende Brustwarzen, dann ist nicht das Problem, dass er triebhaft, von seinen Hormonen gesteuert ist, das Problem ist das Andere: die Frau und ihr Fehlverhalten, sich falsch gekleidet zu haben. „Ich kann ja nicht anders.“, meinte ein Freund neulich in Ansätzen verzweifelt zu mir … und ich glaube ihm: Er will sich ändern. Der erste, der soziokulturelle Reflex ist aber, dass der Fehler bei der Frau liegen muss – wie auch dann, wenn von Frauen behauptet wird, für eine von Männern geschaffene Arbeitskultur zu sensibel zu sein: Wie kann sie sich daran anpassen? Oder auch, wenn sich bei gleicher Qualifikation 70% Männer und 30% Frauen auf eine Stelle bewerben, dann ist die Maßnahme klar: Wie können wir Frauen dazu bewegen, sich mehr zu bewerben, nicht wahr?
Und so war es eben auch selbstverständlich, dass der Handbohrer, den mir unser Großvater überließ als ich ihn darum bat, für meine Hände zu groß war – weshalb Tobi mir einen neuen Griff schnitzte.
Natürlich war ich ihm schon damals dankbar gewesen, doch erst als ich Simone de Beauvoir gelesen habe, fiel mir auf, was er da wirklich gesehen hatte und dass die Probleme sich ganz deutlich abzeichnen, wenn man nur einmal ruhig beobachtet und das maschinell gefertigte Standardprodukt infrage stellt. Danach bohrte ich monatelang mit meinem geliebten, meinem Großvater abgerungenen und dank Tobi auf mich zugeschnittenen Bohrer in jede Latte und jeden Balken, der mir unter die Finger kam. Heute weiß ich nicht, ob ich die Arbeit am Holz jemals so lieben gelernt hätte, wenn mein Werkzeug von Anfang an zu groß für meine Händen gewesen wäre. Auf jeden Fall hielt ich den Handbohrer von diesem neuen Anfang an, seinem neuen Griff, bis heute in Ehren: Es ist als hätte ich die Bedeutung, die ich später nachlesen durfte, schon damals gespürt. Simone de Beauvoir gab mir nur die Worte dafür.
In der Zeit nach dem Abitur, d.h. nach Simone de Beauvoir, habe ich mir dann oft vorgeworfen, dass mich das alles nicht genug berührt: all die Ungerechtigkeit, die mir nach und nach auffiel, so viel lief schief, aber ich genoss einfach das Leben: ich saß mit meinen Freund:innen zusammen, wir fuhren gemeinsam nach Italien zum Campen, einmal sogar ans Meer.
Mein Notizbuch „aber natürlich“ war damals – noch immer versteckt unter meinem Nachtkästchen – schon ziemlich eingestaubt, aber als auf dem Weg zum Meer selbstverständlich Theresas Freund fuhr, fiel mir das dann doch mal wieder als Selbstverständlichkeit auf – und ich dachte an mein Büchlein.
Das Loch, nach dem Ausziehen
Dann folgte das Studium, der Abbruch und die Gewissheit: Es muss etwas ganz anderes her. Und die neue Umgebung, die Baustelle, schaffte es dann auch, dass mich die Ungerechtigkeiten berührten. Mit den sich täglich wiederholenden Erinnerungen daran, dass ich an diesen Ort nicht gehöre, kam ich meist halbwegs gut klar. An den Rand der Verzweiflung brachte es mich aber, wenn ich durch meine eigene Schwäche oder Nachlässigkeit die Strukturen verfestigte, die bereits herrschten: Wenn ich bemerkte, wie ich den Ton nachahme, den meine Kollegen anschlugen; auch ließ ich auf der Baustelle die weibliche Form bspw. einer Berufsbezeichnung meist weg (mit meinen Freund:innen spreche ich immer von „Ärztinnen und Ärzten“, auch von „Handwerkerinnen und Handwerkern“) und bei politischen Themen, d.h. dort meist: über Poltiker:innen sprechen, hielt ich ohnehin meinen Mund. (Lange Zeit sprach man am liebsten über Annalena Baerbock: „Die müsste man nur mal so richtig …, dann wüsste sie schon wo ihr Platz ist.“, habe ich ein paar Mal aufgeschnappt.)
Ich weiß, bei all dem mache ich nicht groß was falsch; ich habe gute Gründe dafür, mich anzupassen, ich weiß nicht, wie die Reaktion ausfällt, wenn ich den Mund aufmache, wenn ich – in meiner Position – versuche etwas zu verändern. Gleichzeitig weiß ich: so ändert sich ja auch nichts. Zu ahnen, egal, wie ich es mache, ich würde dafür abgestraft: entweder persönlich oder strukturell, ist das Zweitschlimmste; das Schlimmste bleibt, auf den Tag zurückzublicken und zu sehen, dass ich wiedermal die strukturelle Strafe „gewählt“ habe.
Nachdem ich ausgezogen war, machte mir die Ungerechtigkeiten ehrlicherweise bald nicht nur auf der Baustelle zu schaffen: So gut wie alles, was ich im Edeka kaufen kann, ist in einer Plastikverpackung und auch noch für die Milch aus dem Bio-Markt muss die Kuh jedes Jahr wieder (künstlich) besamt werden – sonst gibt auch die Mutterkuh, wie die menschliche Mutter, keine Milch. Sie, die Milchkuh, wird bis zum 7. Monat weiter gemolken, gibt jährlich ein Kalb, das oft genug auf meinem Tisch landete – früher habe ich sehr gerne Wiener Schnitzel gegessen – und eben auch daran habe ich teil, ja auch das verfestige ich, indem ich meine Milch kaufe.
Ja, ich bin sogar der Meinung, ich sollte nicht einmal im Supermarkt einkaufen – schon das ist zu viel Distanz; ich bin zu weit weg, von all dem was im Hintergrund eigentlich geschieht: vom Apfel über das Spülmittel bis zu Butter und Quark. Es nicht zu tun, ist aber auch keine Möglichkeit. Mir scheint, wir haben uns in eine Situation hineinmanövriert, in der feinfühligere Menschen sehr wohl spüren, dass wir uns entfremdet haben: von unserer eigenen Natur und uns selbst; dass ein richtiges Leben im Falschen eben eigentlich nicht möglich ist. Die Systeme aber sind so groß, wir so stark mittels unsichtbarer Fesseln in unseren Optionen gebunden, dass wir lieber nicht daran denken: Es ist einfacher, wenn jede:r seine:ihre Rollen einnimmt, genug Geld und immer mehr Geld verdient – so denken wir lieber nicht an die grundsätzlichen Probleme. Wie die paar Zeilen, die ich (dank Helene) von Rilke kenne, gehen:
Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, –
wir würden weit und namenlos.Was wir besiegen, ist das Kleine,
Rainer Maria Rilke
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Und auch ich weiß ja nicht, was hier die Lösung ist: Mir ist nur klar, was der überdimensionierte Griff ist. Ich fühle: Er ist viel zu groß für die Hand, die ihn doch eigentlich führen sollte – womit ihn allerdings austauschen, wie einen neuen schnitzen, das weiß ich nicht.
Ende
Ich wünschte, ich könnte Tobi fragen. Aber er ist weg. Nein, er ist nicht einfach abgehauen, sondern hat sich verabschiedet und sich nicht überzeugen lassen, nicht zu gehen. Mit „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ hat er sich vor drei Jahren verabschiedet, ohne zu sagen wohin. Mittlerweile weiß ich, dass diese Worte von Adorno sind und dass es im Kontext des Textes zunächst einmal um das Wohnen geht, um Wohnen und Häuser. Deswegen wird es in meinem Haus immer auch ein Bett für einen Gast geben: in der Hoffnung, dass es eines Tages mein Bruder sein wird, der zurückkehrt. Glücklich, das Alte weiterhin vor sich.
Kommentare von Marco Zander