Eine Spaziergängerin im Regen
Sturmregen, gefolgt von absoluter Stille – ein Wetterphänomen, das es so nur hier im Asow-Synasch gibt. Jedes Wochenende, an dem es regnet, geht Agnete spazieren. Gegen Ende ihres Spaziergangs steht sie dann auf der Brücke und schaut dem Sturm zu, wie er auf dem Wasser tobt; den Tropfen, wie sie die Oberfläche aufrauen, und ein wenig später durch die sich beruhigende Meeresoberfläche auf den Meeresgrund. Am Horizont sieht sie schon die nächsten schweren, schwarzen Wolken.
In diesen Momenten denkt sie häufig an ihren Vater, an das eine winzige Detail, das sie von ihm kennt: dass er ein Seemann gewesen war – in seiner rechten Hosentasche immer einen Backenzahn. Auch heute dachte sie daran – sie verstand ihn, den Kapitän. Auch sie ruft die Welt. Und in einem solchen Moment, heute, kommt eine Gestalt aus den Tiefen … zu ihr emporgestiegen.
Ein Mann. Seine Haare wie aus reinstem Gold, seine Augen gefühlvoll und tief.
„Agnete?“, spricht er. „Hörst du mich?“
Ja, sie hörte ihn. … Das kann doch nicht sein.
„Willst du mit mir kommen?“, fragt er.
Sie hat kaum Zeit, ihre Zustimmung zu geben: Nichts. Nichts würde sie lieber tun, als mit dem Mann aus dem Meer zu gehen.
Da greift er sie auch schon. Das kann doch nicht sein. Sowas passiert mir nicht.
Ein erster Kuss auf ihre Ohren, dann die Augen, die Nase und zuletzt auch auf den Mund. Dann spürt sie seine kalten, weichen Hände auf ihrem Mund: Er schließt ihn und zieht sie mit sich nach unten in die Tiefen.
Zu sich, in sein Zuhause.
Die Zeit am Meeresgrund
In der Tiefe vergeht die Zeit. Acht Jahre verbringen Agnete und der Wassermann gemeinsam dort unten. Rote Schuhe, mit goldenen Schnallen trägt sie dort. Sieben Söhne und eine Tochter schenkt sie ihm.
Sie sitzt gerade an der Wiege und singt, als sie die Glocken des Kirchturms hört. Mit schwerem Herzen geht sie zum Wassermann:
„Darf ich nur dieses eine Mal zur Kirche gehen?“
„Ja, sicherlich darfst du das, meine Liebste, solange du nur zurückkehrst, zu den Kindern, den Kleinen.“, sagt er.
Überglücklich erwidert sie: „Aber natürlich werde ich das, nichts ist mir teurer in dieser Welt!“
Und der Wassermann fügt noch hinzu:
„Aber … wenn du den Kirchhof betrittst, sollst du deine goldenen Schuhe nicht tragen.
Wenn du den Vorraum der Kirche betrittst, sollst du unter dem roten Leder nicht lachen.
Und, wenn du ihren Innenraum betrittst, sollst du nicht dorthin gehen, wo deine Mutter sitzt.
Und zuletzt, wenn der Priester den Heiligen erwähnt, sollst du dich nicht verbeugen.“
… Was? …
In der Kirche
Und Agnete geht zur Kirche.
Und sie trägt ihre goldenen Schuhe auf dem Kirchhof.
Und sie trägt die Haare offen als sie in den Vorraum der Kirche tritt.
Und sie lacht als sie unter das rote Leder tritt.
Und in der Kirche geht sie direkt zum Platz ihrer Mutter.
Und als der Priester den Heiligen erwähnt, verbeugt sie sich tief.
Bei ihrer Mutter angekommen sagt diese:
„Agnete! Agnete! Wo kommst du her?
Agnete! Agnete! Meine liebe Tochter, meine zarte!
Wo warst du die ganze Zeit?
Wo warst du so lange Zeit?
Und wo sind deine Wangen so weiß geworden?“
„Auf dem Grund des Meeres ist mein Zuhause; dort habe ich mich dem Mann aus dem Meer hingegeben. Dort scheint die zarte Sonne nicht und deswegen sind meine Wangen so weiß. Sieben Söhne habe ich ihm geschenkt, das achte Kind ist ein Mädchen, noch ganz klein.“
„Was? Aber was hat dir der Mann aus dem Meer dafür gegeben? Als er dich zu seiner Frau gemacht hat?“
„Er hat mir fünf goldene Ringe mit Rosen und auch Lilien darauf gegeben. Und er hat mir rote, goldene Armbänder gegeben; keine schöneren haben die Hände einer Königin je gesehen. Auch gab er mir Schuhe mit goldenen Schnallen, keine schöneren haben die Füße einer Königin je gesehen. Außerdem eine goldene Harfe, mit der ich spielen konnte, wenn mein Herz besorgt, ich traurig war. Aber jetzt werde ich auf diesem, unseren grünsten Boden bleiben und nie zurückkehren auf den Meeresgrund.“
Und wie sie da sprachen, dachten sie, sie wären allein. Doch während all dem stand der Wassermann in der Nähe und hörte es alles.
Er ging hinein, durch die Pforten der Kirche und alle Ikonen drehten sich zu ihm um.
Noch immer war sein Haar das reinste Gold. Doch diesmal seine Augen voller Tränen.
„Agnete! Agnete! Komm mit mir, in das Meer!
Deine kleinen Kinder sehnen sich nach dir.“
„Lass sie sich sehnen, so lange sie wollen. Ich werde dort nie wieder hin zurückkehren.“, erwidert sie.
„Denk doch an den Großen und an den Kleinen! Ja, denk an die aller Kleinste, die noch in der Wiege lag!“
„Nein, nie wieder werde ich an sie denken – ob an den Großen oder an den Kleinen. Und am aller wenigsten werde ich an die Kleinste denken, die noch in der Wiege lag.“
Mehr Tränen füllen die Augen des Wassermanns, dann wird sein Blick hart, er hebt seine Rechte und spricht:
„Finsternis und Dunkelheit über das ganze Land!“
In der Finsternis, in der Dunkelheit
Jetzt ist es düster und dunkel. Die Finsternis verhüllt das ganze Land und die Stadt. Blind geht Agnete. Sie kann den Weg nicht finden.
Eigentlich wollte sie auf diesem, unseren grünsten Boden gehen, doch sie nahm den Weg zum Grund des Meeres.
Sie wollte zum Hof ihrer Mutter gehen, doch sie nahm den Weg, der in die Tiefe führte.
Als sie dann auf einmal vor dem Wassermann steht. „Willkommen, Agnete, unter den blauen Wellen!“, spricht er.
Weiter: „Nie wieder sollst du auf der grünen Erde wandeln! Und nie wieder sollst du deine so kleinen Kinder sehen. Du sollst hier auf hartem, grauen Stein sitzen und kannst mit den Gebeinen der Toten spielen. Doch ich lasse dir die goldene Harfe, auf dass du sie traurig spielen kannst.“
Das Ende
Und so sitzt Agnete heute dort unten in den Tiefen. Die Unsterblichkeit schenkte er ihr gleich mit dazu. Und ihre Harfe kann man noch in den grünsten Hainen hören. Die lieblichen Töne des lieblichen Mädchens, das immer auf der Brücke stand und auf den Meeresgrund schaute. Und im Hintergrund hört man die Vöglein singen.
„Liebliche Agnete!“, zwitschern sie. Und Agnete spielt am Meeresgrund.
ENDE
Wie kam es zu der Geschichte?
Kierkegaard berichtet in „Furcht und Zittern“ von Triton und Agnete. Er verändert seinen Triton/ seinen Wassermann ein wenig, mir fehlte aber das Wissen zur Sage, um zu verstehen, was er eigentlich veränderte. Auf der Suche bin ich auf das dänische Volkslied zu Agnete und dem Triton gestoßen:
Den Text habe ich im Wesentlichen übersetzt und ein paar kleinere Veränderungen daran vorgenommen.
Kommentare von Marco Zander