Ich versuche immer ein froher Geist im Hause meiner Großeltern zu sein. Ich will gute Laune in ihr Heim bringen, wenn ich schon einmal da bin. Sie aufmuntern, sie am liebsten Geschichten aus ihrer Jugend erzählen lassen, noch lieber vom ersten Fensterputzen in der Anfangszeit ihrer Beziehung.
Auch diesmal war ich, kaum über die Türschwelle getreten, in dieser Einstellung. Ich begrüßte meine Großmutter herzlich, umarmte sie fester als notwendig gewesen wäre und lies meinen Arm noch um ihre Schultern gelegt als wir in Richtung Küche zu Syrniki, Kaffee und meinem Großvater gingen. Dort sprachen wir ein wenig über dies und das, dann wollte mein Großvater noch eine Zigarre rauchen und wir gingen hinaus.
Auf der Terrasse gab es zwar eine feste Bank und einige andere Sitzgelegenheiten, aber er nahm immer auf einem weißen Plastikstuhl mit einem billigen Sitzpolster und einer Decke Platz. Ich setzte mich parallel neben ihn, sodass wir beide auf die mächtige Birke im Garten schauten.
Zunächst erzählte er mir, wie so oft, wenn wir so saßen, dass sie der wohl höchste Baum der Chanten, ja vielleicht Russlands, in jedem Fall aber Nischnewartowsk sei. Meine Familie war von dieser Geschichte mittlerweile genervt. Ich mochte sie und noch mehr diesen riesigen, weißen Baum. Seine Äste schienen keine schwere Last tragen zu müssen, hingen umso tiefer nach unten und endeten doch noch immer höher als die Wipfel der meisten restlichen Bäume in der Siedlung stiegen.
Als wir dieses Mal vor der Birke saßen war ich gerade 27 und hatte mein drittes Studium begonnen. Ich berichtete ihm, dass ich traurig war; dass mir das Leben schwer und immer schwerer schien und mir dieses nächste Studium nur wie eine Flucht vor der realen Welt vorkam; ich auch kein Gelehrter war oder mich besonders klug glaubte – nur nicht in diese Welt zu passen schien. Schon als ich es erzählte, kam ich mir schrecklich undankbar vor. Was erzählte ich da einem Mann, der im zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, der dort verwundet worden war, sein Leben darauf hingespart hatte, dieses Haus zu bauen und dessen am häufigsten wiederholte Geschichte die war, wie er eine Handgranate in einen deutschen Schützengraben geworfen hatte – jedes Mal wieder folgte danach, dass er nicht wusste, ob dabei jemand gestorben war. … Rauskommen hatte er allerdings niemanden mehr gesehen.
Und trotzdem hörte er mir zu. Und trotzdem fuhr ich fort.
Ich erzählte, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, jetzt ein Leben in der echten Welt zu beginnen; selbst wenn sie mich einmal durchkaute und wieder ausspuckte, würde ich noch immer irgendwas von ihr wollen, das sie einfach nicht war – auch nie hatte sein wollen. [1]
Als ich fertig war, schwieg mein Großvater fast eine, vielleicht sogar zwei Minuten. In der Zeit sah ich einen Mann in meinem Alter auf der anderen Straßenseite mit einem Schnäuztuch eine Felge seines Autos polieren und der Geruch von schmorendem, schmelzendem, teils brennenden Plastik stieg mir in die Nase, nahm dann wieder an Intensität ab.
Dann deutete er auf die große Birke, wartete noch einmal kurz und begann mit ein paar Zeilen, die, wie ich wusste, aus der älteren Edda stammten:
Vom Baum und von den Bäumen
„Eine Esche weiß ich,
Die heißt Yggdrasil –
Den hohen Baum netzt weißer Nebel.“
Als er eine Pause machte, drehte er sich nicht zu mir um. Vielleicht hat er in ihr nachgedacht, vielleicht sich auch einfach Zeit gelassen. Ich schloss die Augen.
„Von ihm kommt der Tau,
der in die Täler fällt;
Spielt mit dem Wind
Und bringt das Leben.
Aufrecht steht die Weltenesche,
Vor dem Mensch,
Wie vor dem Tier.
Und durch die Blätter,
Durch den Nebel,
Rauscht der Wind
Und rauschen wir.“
Wieder pausierte er und ich blieb still, öffnete kurz die Augen, schaute auf den größten Baum meiner Kindheit, den vielleicht größten Russlands; erinnerte, wie ich mit sieben, acht oder neun Jahren manchmal bei meiner Großmutter übernachtet hatte, es draußen stürmte und windete und sich die feinen Zweige trotzdem noch immer ruhig hin und her bewegten – nur ein wenig weiter schwangen als sonst.
„Die Menschen stehen vor der Esche,
Wie die Tiere auf dem Eis,
Manche zittern, manche brechen,
Wenn es knackst –
Das tiefe Weiß.
Viele Dinge könnt sie ihn‘ erzählen,
Von der Tiefe unter ihnen –
Tausend Meter Ewigkeit.
Und vom Unbill, das sie leidet –
Mehr noch als man meint.
Vom Hirsch, der äst in ihren Wipfeln,
Vom Drach’n, der nagt am Fundament,
Und der Fäulnis, die da frisst,
An allem was die Menschheit kennt.
Und als wär das nicht genug,
Liegen Würmer an ihr’n Wurzeln:
Ein ganzes Volk von Zwergen,
Die da brechen und zerfressen
Was der Baum sein Eigen nennt.
Und doch singt sie dem,
Der’s hören will
Ihr zartes Lied
Vom Leben … noch im Sterben –
Mitten in der Ewigkeit.
Davon wie man aus der Tiefe
In den Himmel kommt,
Sich Äxten erwehrt
Mit bloßen Händen;
Wie man selbst als alter Baumengreis
Noch rauscht und singt
In dem Feuer,
Das die Welt,
Die Mauern unsrer Zeit
Und am Ende
Einen auch noch selbst verschlingt.“
Marco im Auftrag von Ilya K.
Anmerkung:
[1] Dieser Ausschnitt ist sehr nah an einen Ausschnitt aus dem Buch „Stoner“ von John Williams angelehnt.
Kommentare von Marco Zander