Aristokratische Systeme — eine Herrschaft der Besten — waren im Feuilleton als fataler Fehler erkannt worden, der auch bis in die Grundzüge ausgemerzt werden musste: Urteilsfreiheit, Gleichheit und Individualität, das waren die Werte des Feuilletons.

Im Großen gab es keine Besten, die den Staat lenken sollten; im Kleinen kein besser oder schlechter geführtes Leben. Im Großen sollte gemeinsam,  im Sinne einer Schwarmintelligenz , geführt werden und im Kleinen führte jeder Mensch sein Leben auf die unangefochten beste Weise.

Die Welt hatte sich verändert. Man könnte das Geistesleben der Feuilletonepoche mit einer entarteten Pflanze vergleichen, die sich in hypertrophischen Wucherungen vergeudet […].

Emil Sinclair, 1943

Im Ergebnis für das Geistesgut war dann doch überraschend vieles genauso gekommen, wie man es vorhergesehen hatte. Nachdem man im Dritten Reich der gesamtgesellschaftlichen Verdummung noch einmal um ein Haar entronnen war, wurde diese dann in der Gegenbewegung hin zum anderen Pol während der Feuilletonepoche durchgesetzt: Indem man alle Ideale im Sinne der Gleichheit verwarf. Denn: Können Ideale überhaupt moralisch sein? Das stand erst einmal zu beweisen, bevor irgendetwas als besser oder schlechter beschrieben werden durfte. 

Ja, man konnte das Geistesleben der Feuilletonepoche mit einer entarteten Pflanze vergleichen und wo der Militärschuh noch knapp daneben getreten war, wucherte sie nun wild und unkontrolliert.

In der Feuilletonepoche kam es zunächst zu einer Inflation von Begriffen und Theorien, auf die immer weitere Begriffe und Theorien bauten. In der Wissenschaft beriefen sich die Veröffentlichungen immer auf die aktuellsten Studien, die im immer gleichen Tonus verfasst, bald nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, während sich Produkte im Alltagsleben an immer schneller wechselnden Trends orientierten. 

In diesem Sinne wurde Gedankengut früherer Denker als konservativ — non-progressiv und in einer sich immer im Wandel befindenden Welt: gar menschenfeindlich — beschrieben.

Während man einst Elitenbildung und -förderung, mit dem Ziel die Besten den Staat leiten zu lassen, guthieß, wurde dies in der Feuilletonepoche im Sinne des Werts der Gleichheit unterbunden. Zunächst zog sich deshalb die bestehende Oberschicht in ihre eigenen, engen Kreise zurück und züchteten dort im inneren Kreis weiter. Nur war es mit den Eliten eben, wie schon Emil Sinclair beschrieb, immer das Gleiche: Denn wenn sie sich ganz selbst überlassen sind, keinen Anschluss mehr haben an die restliche Welt, korrumpieren sie sich schon bald von innen heraus. 

Im Rest der Gesellschaft war es währenddessen bereits verpönt mehr oder weniger gute Lebensführungen zu unterscheiden. Denn dies war gleichbedeutend mit dem Ausschließen bestimmter Individuen, ergo: dem Angriff auf ihre soziale Existenz, von welcher es, je tiefer wir in die Feuilletonepoche fortschreiten, immer deutlicher wurde, wie verletzlich sie geworden war und an welch‘ bald seidenem Faden sie lediglich hing. Aber dazu mehr in Kapitel IV zur psychologischen Krise. 

Mythologisch war man versucht, den Zeitgeist der Feuilletonepoche mit dem einer übervorsichtigen Mutter zu vergleichen, die versucht ihre Kinder vor jeglichen negativen Erfahrungen zu bewahren und damit Wesen hervorbrachte, die weder selbstständig arbeiten, noch sich in größere Systeme integrieren konnten. Sie wiesen auf die zweifelsohne bestehenden unterdrückenden, grausamen und ungerechten Tendenzen dieser Systeme hin und verwarfen sie damit als böse, schädlich und überkommen. 

Daher rührten auch die Maßnahmen, die getroffen wurden als im Frühfeuilleton deutlich wurde, dass vor allem Kinder noch lange nicht vor den ‘reaktionären, non-individualistischen’ Prägung insbesondere durch ihre wirklichen Eltern geschützt waren. So war man beispielsweise dazu übergegangen auch Kinderbücher an den aktuellen Stand der vermeintlich wertfreien Wissenschaft hinsichtlich richtig und falsch anzupassen. Die Kinder sollten möglichst lange Zeit unter Aufsicht der Behörde und staatlich anerkannter frühkindlicher Freiheit bleiben, wo wiederum penibel darauf geachtet wurde, ihnen eine geschützte, wertfreie Erziehung zu gewähren, um sie nicht in ihrer Individualität einzuschränken. 

Zunächst reagierten viele Konservative, die insbesondere in der Wirtschaft anfangs noch hohe Posten inne hatten, mit eben jener kategorischen Abwehrhaltung, die ihnen auch heute noch definitionsgemäß zugeschrieben wird, sodass es in den Frühjahren des Vorfeuilleton zunächst zu einer Spaltung der oberen Gesellschaftsschichten kam. Bald setzte sich jedoch die Ansicht der Universitäten durch: 

‘Die Schöpfung der eigenen Werte ist eine Grundfähigkeit jedes einzelnen Menschen, die durch externe Kräfte (wie explizit: Religion, Mythen, Rollenbilder, Ästhetik) inhibiert wird; vor jenen externen Kräften zu schützen, sodass jeder Mensch sich frei von ihnen entfalten kann, ist ein Menschenrecht.’, hieß es damals. 

Um solch eine freie Entfaltung zu gewährleisten, mündete diese Bewegung dann am 7. August 2032 in der großen Bücherverbrennung des 21. Jahrhunderts. Selbstverständlich war dies bereits damals ein primär symbolischer Akt. 

Um die Menschen vor den veralteten Wertesystemen früherer Jahrhunderte und Jahrtausende zu schützen und einen freien Start in ein neues, freies Zeitalter zu gewährleisten, wurden die Werke aus vergangenen Zeiten — vom Gilgamesch-Epos bis zum Koran, den alten Griechen bis zu Kant — somit verbrannt, vor allem aber aus privaten wie auch staatlichen Datenbanken verbannt. 

[…] An dieser Stelle überspringen wir ein paar Seiten und gehen weiter zum Ende der Einleitung. […]

Bereits vor der Jahrtausendwende hatte sich eine Bewegung von Kreativen (Schriftstellern, Malern, Geistesmenschen) um Emil Sinclair (Pseudonym: Helmut Hermannsdorfer) damit verdient gemacht, die feuilletonistische Epoche vorausgesagt zu haben. Sie hatten den Niedergang des Geistes im dritten Reich mit angesehen und bereits damals die Verletzlichkeit des Geistes erkannt. 

Die einen ergaben sich und stellten ihre Gaben, Kenntnisse und Methoden den Machthabern zur Verfügung; bekannt ist der Ausspruch eines damaligen Hochschulprofessors in der Republik der Massageten: „Was zweimal zwei ist, hat nicht die Fakultät zu bestimmen, sondern unser Herr General.“

Emil Sinclair, 1943

Doch, wo diese Gruppe von Kreativen in den Reisen den Ausweg für die Menschheit und eine mögliche Besinnung des Menschen auf das eigentlich Menschliche gesehen hatte, hatten sie doch den auch damit einhergehenden Verlust der Identität eines Großteils der Individuen, dadurch dass sie in all die kennengelernten Kulturen nur oberflächliche Einblicke erhielten, in keiner mehr tiefgreifend verankert waren, nicht kommen sehen. Und die damit später einhergehende psychologische Krise der Weltenseele hatte nicht verhindert werden können. 

Bevor wir nun mit einer detaillierteren Beschreibung der feuilletonistischen Epoche fortfahren, haben wir uns dazu entschlossen, eine kurze Aufzeichnung des Zeitzeugen Christopher Heitz (von ihm unterzeichnet als Josefus Kontemplizzi) aus dem Jahr 2021, welches die meisten Historikern bereits in das Frühfeuilleton zählen, Erwähnung finden zu lassen. 

Sowohl das erste Gedicht als auch die darauffolgende Tagebuchaufzeichnung — vermutlich aus der Zeit der Flavi-Pandemie 2020/2021 — gewähren Einblicke in die Hoffnungslosigkeit des Autors für seine Generation im Angesicht der Vorboten der psychologischen Krise. Weiter lassen die thematische Nähe und die eingebauten Zitate vermuten, dass er — wie viele seiner Alters- und Zeitgenossen — Bücher und Gedichte Emil Sinclairs las.

Alles gleich

Performative, aber nicht nur diese, 
Liegen kraftlos und verloren mit mir auf der Wiese, 
Ziehen umher wie dicke Wolken, 
An denen sich einst, wie an Schmetterlingen, Menschen freuten.


Menschen… ziehen auch vorbei — 
Bevorzugt in Grüppchen; 
Sonnen sich… im Lichte 
And’rer Menschenpüppchen:

Gebrauchte Schuhe, modische Jeans, loses Haar — 
Thailand, Kuba und Südafrika. 
Neue Schuhe, schicke Jeans, frisch-gestutztes Haar — 
Australien, Singapur und Kanada.

Mir scheint, die Traveler,
Die haben was verstanden — 
Etwas, das mir noch fehlt — 
Immerhin standen sie an den Anden, 
Und ich lud zum Gebet. 

Und wenn auch keine heil’gen Worte, 
So haben doch auch sie ein Mantra, 
Das liegt herum und ist bekannt: 

Es gibt eines, das die Schlau- & Schönen eint: 
You shall travel and have an open mind. ??


Und während ihre Herzen Abschied nehmen und gesunden, 
Fragt mich meines: 

“Siehst du nicht, wie all die opendmindedness
Wie en passant Ideal um Ideal verfallen lässt?

Sei’s keusch, sei’s hübsch — vollkomm’ne Dinge;
Alles weg — tote Knospen, hohle Sinne. …


Und Schmetterlinge…, 
Die diskriminieren Raupen, 
Weil diese hoch 
Zum Himmel schauten.” 

Und so lieg’ auch ich nun da, 
Auf meiner Wiese, 
Und denk mir das  
Und das für diese:

Keinem Anfang wohnt noch Zauber inne — 
Openminded
… eine Welt ertrinkt in Neubeginnen.


Gezeichnet: Josefus Kontemplizzi, 30. Mai 2021


Tagebuchaufzeichnung — Christopher Heitz 

Heute ging ich an einer Gruppe von Jugendlichen vorbei. Die Haare bunt gefärbt, die Klamotten schwarz, die Augen unterstrichen. Als ich sie sah, ging es mir besser. Vielleicht besteht doch noch Hoffnung für die Welt. Vielleicht beginnen mehr Mensch zu verstehen oder es zumindest zu fühlen. Und in letzter Zeit sehe ich das immer häufiger… und immer häufiger. 

Und dann erinnerte ich mich eines neuerlichen Gedankens, der so gut in die aktuelle Zeit passt: 

‘Um ein erfülltes Menschenleben zu leben, so scheint es, muss man hin- und hergeworfen werden… von einem Schicksal, von höheren Gewalten — man klammert am Trott, doch etwas… wie ein unbarmherziger Gott — muss uns ihm entreißen, so scheint es. Sonst… verlieren wir uns… im Trott.’ 

So scheint es. 

Und ich meine… ist das… das ist doch genau das, was sie alle auf ihren Reisen suchen… dem Trott zu entkommen? Und gelingt es ihnen nicht, sich in fremden Ländern verloren zu fühlen, sich auf Reisen zu verlieben, ihre Seelen vor fremden Menschen auszubreiten? Und was lernt man nicht für tolle Menschen kennen, auf Reisen. Einen um den anderen tollen Menschen lernt man kennen, auf Reisen, eine um die andere magische Verbindung fühlt man, auf Reisen, und weil sich früh genug die Wege wieder trennen, bleibt man in seinem Glauben; nichts muss sich mehr dem Prüfstein der Zeit stellen und so schwirrt überall ihr Zauber herum. 

Ja… und so kommt es, dass meine Welt, mein liebes Tagebuch, in ihrem oberflächlichen Zauber erstickt, sie ist in ihm versunken. Hier wächst nichts mehr, hier schießen die Dinge in die Höhe und fallen um… tiefe Wurzeln schlägt hier niemand mehr, denn sie fesseln einen ja bekanntlich, machen abhängig. Dann ist man verhaftet, an einem Ort, bei einem Menschen. So ist man frei. 

Ich sehe vieles, liebes Tagebuch, viele Abenteuer, große Sensationen, aber keine echte Nähe, keine Liebe. 

Aber… wer bin ich, so etwas zu sagen? Vielleicht herrscht keine Inflation von großen Augenblicken, von wechselnden Geschlechtspartnern, von neuen Liebschaften. Ja, vielleicht muss man lernen zu lieben, wie man das Tennisspielen lernt: jeder weitere Partner hilft dir lieben zu lernen. Es ist nicht so, als würde ich mich das nicht fragen, liebes Tagebuch; als würde ich es mir nicht vorwerfen. 

Und, vielleicht haben sie hundert Arme, sodass sie viele auf einmal umarmen können, ich aber habe nur zwei… und wünsche nur eine einzige zu umarmen. Ich wünsche gar nicht mehr; ich wollte keine hundert Arme, könnte ich sie haben; ja hätte ich sie, ich würde sie mir einen um den anderen abhauen, um nur eine zu umarmen. 

Doch dieses Bild, die hundertarmige Frau, lies mich nicht los und so träumte ich noch am selben Abend folgenden Traum: 

Vor einer riesenhaften Frau mit großen Brüsten, breiten Hüften und hundert Armen stand ich und sie wollte mich fassen, mich umschlingen. Sie griff um sich und hielt Mann um Mann in ihren Händen. Und schon im nächsten Moment auch mich. Einen um den anderen ihrer lüsternen, benebelten Freier küsste sie. Dann kam ihr nasser Mund zu mir, sie spürte, wie ich mich wand, “Es ist doch nur ein Kuss, nur ein Kuss.”, sagte sie immer wieder, doch im letzten Moment entglitt ich ihren Fingern und schwamm davon, in meine dunkle, feste Höhle, wo die einst so schöne, zauberhafte Medusa mich nicht finden konnte. 

“Es ist doch nur ein Kuss, nur ein Kuss.”, hörte ich sie noch beim Erwachen immer und immer wieder sagen. 

Aber… jetzt bin ich wieder von den großen Themen, den gesellschaftlichen in mein kleines, mein ganz persönliches Liebesthema reingerutscht. Ach, am Ende bin ich doch wieder nur ein kleiner Kontemplizzi… kein großer Kontemplator. 

Ein kleiner Kontemplizzi, kein großer Kontemplator. Zudem noch, du weißt es ja genauso gut wie ich, gefangen im Körper eines Lustmenschen, eines flatterhaften Lebemannes. Ich bin talentiert darin, mich schnell zu verlieben, schönen Frauen zu vergeben, solange — versteht sich — diese nichts Ernstes im Sinn haben — sobald das geschieht, suche ich das Weite, da war noch keine schön genug. Ich bin… geneigt, Hoffnungen zu wecken und aus tiefstem Herzen große Versprechungen zu machen; ich bin ein sich Sehnender, mehr noch als nach Küssen, nach neuerlichen Kratzern auf dem Rücken; ein Lüstling also… ein leidender Lüstling aber immerhin; einer, der seinen Trieben und seinem Temperament, seinen Neigungen misstraut. Und es ist wieder Sommer, liebes Tagebuch — all die nackte Haut, die tiefen Ausschnitte und verlockenden Umrisse schöner Knospen. 

Liebes Tagebuch, da ist es, Jahr um Jahr, besonders schlimm. Ja, liebes Tagebuch, ich bin ein Lüstling; vielleicht nur einer, der sich verbissen wehrt, wo er spielerisch tanzen sollte; vielleicht aber auch einer, der seinem jugendlichen Ich noch immer in die Augen sehen kann, wie er es nicht könnte, würde er in ihren Armen tanzen und seine Arme ganz frei tanzen lassen, wie sie tanzen wollen; einer, der die Hoffnung nicht verloren hat und noch immer glaubt, dass es mehr gibt als das. 

Denn, liebes Tagebuch, so las ich letztens bei Solowjow, für die Fortpflanzung, da braucht es keine Liebe. Und sind es nicht die niedrigsten Lebensformen, die die meisten Nachkommen zeugen? Vermehren sich nicht auch die Pflanzen und die Zellen, ja ganz ohne geschlechtliche Liebe? Ist die verzweifelte, die nicht-erwiderte Liebe nicht häufiger als die erfüllte, die glückliche? Ja, ist die Liebe nicht eher hinderlich für die Gattung Mensch, für ihren Fortbestand? Für die Menschen also, da braucht es keine Liebe, da reicht der Trieb; der einzelnen Menschen aber, der verkommt ohne sie… zum Tier. Nein zu weniger; denn er wäre zu mehr in der Lage. 

Und liebes Tagebuch, ich habe gelogen, ich habe nie von der hundertarmigen Frau geträumt. Nein, liebes Tagebuch, das ist nicht die Art von Traum, die das Unterbewusstsein eines Lüstlings gebiert. In meinen Träumen… hätte ich mich verführen lassen; in meinen Träumen verführe ich und die meisten Verführten genießen es ebenso wie ich, manch eine lag nur wie eine Puppe vor mir und ich nahm sie mir. 

Die Welt würde mich hassen, für das was ich da tat; nicht so sie, sie konnte es mir nicht übelnehmen und so würde es die Welt nie erfahren. Sie sah den guten Kern, der sich in jedem flatterhaften Lebemann versteckt. So ist es, so war es immer. 

Und doch, ich sehe sie auch… die Frau mit den hundert Armen in unserer Welt. Und sie greift um sich, wird immer größer und stärker. Arm um Arm wächst ihr. Sie tanzt vor meiner Höhle und im Sommer, liebes Tagebuch, da ist es besonders schlimm. Im Sommer, da ist es besonders schlimm, da mauere ich mich ein; Arm um Arm haue ich mir ab. 

Josefus


ENDE

Die beiden Zitate von „Emil Sinclair“ sind aus Hermann Hesses Glasperlenspiel. Die Idee mit den hundert Armen aus Kierkegaards Entweder – Oder.