Ich wurde zu einer Zeit geboren, in der die Mehrheit der jungen Leute den Glauben an Gott aus dem gleichen Grund verloren hatte, aus welchem ihre Vorfahren ihn hatten – ohne zu wissen warum.

Buch der Unruhe: 13

Das gilt heute vielleicht nochmal mehr als am 9. März 1930.

Und für die wenigen, die aus Gründen nicht an Gott glauben, sind seitdem sogar noch einige Gründe hinzugekommen.

In so einer Welt ist ein Beitrag zur Erbsünde wohl ziemlich abseitig.

Und doch hat mich die Frage, was die Erbsünde ist, die letzten Monate begleitet. Angefangen hatte dieses Interesse mit einer verwandten Frage: Was verliert die Menschheit damit, wenn ihr das Sündenbewusstsein abhanden kommt?

Dass etwas verloren geht, wenn (der Glaube an) einen guten Gott abhanden kommt, liegt auf der Hand: Eine Welt, in der es einen guten Gott gibt, ist einer Welt ohne Gott vorzuziehen. Aber mit dem Sündenbewusstsein? Was ist damit verloren?

Bei Kierkegaard ist das mehr oder weniger klar. Vereinfacht: Der Weg aus einer hedonistischen, vergnügungssüchtigen, aber alles darüber Hinausliegenden baren Lebensweise – was soll es schon mehr geben als angenehm oder unangenehm? – hin zu einem wahren Selbstverhältnis, in dem der:die Einzelne sich selbst entspricht, führt durch das Sündenbewusstsein.

Was macht dieses Sündenbewusstsein nun aber zu einer Frage, die nicht nur ein paar Einzelne, ein paar wenige Sünder:innen angeht? Es ist: die Erbsünde.


Und darum geht es in diesem Beitrag: um die Erbsünde.

Wir beginnen bei Sokrates, weil das immer ein guter Anfang ist, versuchen zu verstehen, was die sokratische Definition der Sünde ist – und was diese nicht abbilden kann. Dann umkreisen wir die Erbsünde: mit allem, was mir so zu Verfügung steht – mit nichts, das ihr gerecht wird.

Tugendhaft leben: Sokrates

Wegen Gottlosigkeit und der Verführung der Jugend muss sich Sokrates vor dem athenischen Volksgericht verteidigen. In Platons Überlieferung seiner Verteidigungsrede (Apologie) heißt es dabei:

Und wenn ich wiederum sage, daß ja eben dies das größte Gut für den Menschen ist, täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient gelebt zu werden, das werdet ihr mir noch weniger glauben, wenn ich es sage.

Apologie: 38a

Glauben wir das nun dem Sokrates, liebe:r Leser:in? Glauben wir ihm, dass es in einem lebenswerten Leben darum geht, sich selbst zu prüfen?

Ich will es ihm glauben.

In meinem Buch ist neben den Absatz sogar ein Herz gezeichnet – ein zugegebenermaßen etwas kitschiger Ausdruck dafür, dass mir dies das rechte Ziel zu sein scheint – oder zumindest sehr nah dran: der Versuch sein Leben am Guten, Wahren und Schönen auszurichten.

Sokrates ist mir hier weit mehr Vorbild als Kierkegaard. Auch weil mir seine Philosophie direkter scheint – und mir das Direkte mehr als das Indirekte liegt; ich jenes auch für die tugendhaftere Herangehensweise ans Leben halte.

[Ich bin mir der Problematik bewusst und meine es trotzdem ernst, wenn ich sage, dass das daran liegen mag, dass ich etwas einfacher gestrickt bin, als einige der tiefen, bis hin zu abgrundtiefen Wesen in dieser Welt. Vielleicht haben sie auch etwas verstanden, das mir (noch) verschlossen blieb.]

Die Sünde, die Sokrates nicht erklären kann

Nun hat Sokrates ein Problem: Er schließt die Möglichkeit aus, dass jemand um das Rechte weiß und das Unrechte tut. Tut dieser Jemand das Unrechte, so beweist sie nur, dass sie das Rechte nicht verstanden hat. (vgl. KzT: 94)

Dies ist, glaube ich, was man dann griechische Naivität nennen kann. Sokrates kann nicht erklären, dass der Wille nicht das Gute will. Und ich glaube weiter: Kierkegaard hat da einen Punkt, wenn er das ankreidet; wenn er darauf hinweist, dass das nicht der Wahrheit entspricht.

[Deswegen heißt es bei Kierkegaard: Die sokratische Sünde ist Unwissenheit. (vgl. KzT: 87) Sokrates hätte da wohl Einiges – und sei es auch bloß Pragmatisches – einzuwenden gehabt. … Diese Einwände wollen wir für diesen Beitrag aber (zunächst einmal) beiseite lassen.]

So gesehen hatte Sokrates also keinen Sündenbegriff. Im griechischen Kosmos war kein Platz für die Sünde.

Was ist die Sünde?

In der Krankheit zum Tode (Kierkegaard) ist die Sünde: „vor Gott oder mit dem Gedanken an Gott verzweifelt nicht man selbst, oder verzweifelt man selbst sein wollen“ (KzT: 75).

In den Philosophischen Brocken (auch Kierkegaard) wird der Zustand beschrieben als durch eigene Schuld Unwahrheit sein (vgl. PB: 13).

Beides hilft mir irgendwie nur so bedingt weiter.

Was ist also Sünde? Sünde ist selbstverschuldet nicht das Gute zu wollen. Was ist das? Das ist die Augen zu verschließen vor der Wahrheit – der Wahrheit dessen, was das ist, das man will. Es ist wohl, wenn dem Menschen nicht mehr genügt, ein tugendhafter Mensch zu sein; wenn Niederes zu einem höheren Ziel erhoben wird.

Vielleicht kann man so weit gehen zu sagen: Es ist, wenn man nicht bereit ist, Sokrates zu sein, d.h. für die Wahrheit zu sterben. Denn das sollte wohl der Anspruch sein: dass es genügt zu wissen, alles getan zu haben, um ein tugendhafter Mensch zu sein.

Noch immer nicht verstanden, was die Erbsünde ist

Sokrates konnte also in seiner griechischen Naivität nicht erklären, dass der Wille nicht unbedingt das Gute will. Und ich glaube, Kierkegaard hat einen Punkt, wenn er – vereinfacht – einwendet: Der Wille will aber nicht unbedingt das Gute.

Was uns zur Frage führt: Wie ist die Sünde, selbstverschuldet nicht das Gute zu wollen, in die Welt gekommen? Durch die Erbsünde.

Was ist die Erbsünde? Bei der Erbsünde scheint mir das „selbstverschuldet“ einen anderen, ja einen eher unverschuldet-verschuldeten Charakter anzunehmen: qua meines Menschseins bin ich sündig.

Das wirft Fragen auf. Immerhin war Sokrates ja auch Mensch und die Erbsünde hat ihn schlicht gemäß seiner historischen Geworfenheit in die Zeit vor der Offenbarung nicht betroffen.

Es hängt also zumindest mal mit der Offenbarung zusammen. Und hier wird es holprig. Ich gebe offen zu, dass ich nicht verstanden habe, wie das Ewige (und mit ihm die Erbsünde und das Sündenbewusstsein) an einem Augenblick in die Welt gekommen sein soll (vgl. PB: 11); zeige mit dem Folgenden, wie klein und philosophisch nicht hinreichend ich in Wirklichkeit denke – nichtsdestotrotz … weiter bin ich nunmal noch nicht.

Es stellt sich also die Frage, was es heißt, dass die Erbsünde in die Welt gekommen ist. Meine Antwort: dass Sokrates noch aufrichtig versuchen konnte, kein Unrecht zu begehen.

Bekanntlich hat sich Sokrates‘ Daimon immer dann hören lassen, wenn es darum ging, Sokrates davon abzureden, dieses oder jenes Unrecht zu tun. War Sokrates im Begriff etwas Unrechtes zu tun, hat sich diese Stimme in ihm gemeldet.

Überspitzt gesagt bedeutet die Erbsünde, dass ein wahrhaft Lauschender im 21. Jahrhundert, ob des Geschreis in seinem Kopf, zusammengekrümmt am Boden liegt – so weder in der Lage ist, die Jugend zu „verführen“, noch sich darin genügen oder auch nur sich so unbedingt darum bemühen kann, ein tugendhafter Mensch zu sein.

Was also ist die Erbsünde?

Um ihr gerecht zu werden, bräuchte ich eine theologische Erklärung. Doch die habe ich nicht. Die anthropologisch-mythologische scheint mir zu sein, dass der Mensch aus einem krummen Holz geschnitzt ist, vielleicht auch, dass er eigentlich gar nicht so genau weiß, was er will, dass da kein unmittelbarer Zugriff auf dieses Wollen ist.

Die soziologische Erklärung ist die, an die ich eigentlich immer denke – auch wenn ich sie noch in keine philosophisch-akademische Arbeit mit aufgenommen habe, denn dann müsste ich ja sauber verargumentieren, was es heißt, dass die Ewigkeit in einem Augenblick in die Welt kommt. Und dann fände ich mich in dem Paradox wieder, dass die Erbsünde wohl mit der Offenbarung in die Welt kam – die Offenbarung kann jedoch immer nur in einem Augenblick geschehen, der, so scheint mir, kein vergangener ist. – Aber wie gesagt, ich habe das eben noch immer nicht verstanden. Und dennoch ist die soziologische Erklärung die, die ich für am zugänglichsten halte.

Dass die Erbsünde in die Welt gekommen ist, scheint mir also zu sein, dass Sokrates noch aufrichtig versuchen konnte, kein Unrecht zu begehen. Kein Unrecht zu begehen scheint mir in unserer Welt aber nicht mehr möglich. Sokrates wird überwältig – von den Dissonanzen unserer Zeit.

Beispiele für diese soziologische Erklärung der Erbsünde

Wer will kann sicherlich bei jedem einzelnen der nun folgenden Beispiele fragen, ob Sokrates davon nicht auch betroffen war und wird Gründe dafür finden. Dennoch werde ich mich nicht bemühen, das zu entkräften und nenne nur meine Beispiele:

  • Selbstverständlich kann ich heute kaum etwas kaufen, ohne damit dafür zu sorgen, dass Reiche noch reicher werden (und Arme damit, zumindest relativ gesehen, noch ärmer) oder irgendwo nicht doch irgendjemanden auszubeuten. Egal, ob es mein MacBook mit seinem Lithium-Ionen-Akku ist oder der Magerquark im Edeka.
  • Als Kind bekam man das Kalbsfleisch aus Massentierhaltung vorgesetzt – man aß es und aß es und es war so lecker, dass man es irgendwann selbst in der Wirtschaft bestellt;
  • für das Nutella mussten die Wälder gerodet werden;
  • und um mal andere als so linke-woke-Bubble-Beispiele zu bringen: Wer lieber heimische Unternehmen als die großen Konzerne unterstützen will, findet sich nach der Jugend Whatsapp, Instagram und wohl mittlerweile auch TikTok nutzend wieder.

Und das ist alles nicht neu. Denn die äußere Welt war schon immer imperfekt: Hier bekommt eine, die schläft, es reichlicher als die, die arbeitet (FuZ: 201); Sokrates musste bekanntlich sogar im Peloponnesischen Krieg kämpfen; auch bei ihm heißt es schon:

notwendig muss, wer in der Tat für die Gerechtigkeit streiten will, auch wenn er sich nur kurze Zeit erhalten soll, ein zurückgezogenes Leben führen, nicht ein öffentliches.

Apologie: 32a

Und so mag ein dem ethischen Fortschrittsgedanken Wohlgesonnenerer sagen: „Das ist doch bloß ein quantitativer, kein qualitativer Unterschied. Auch Sokrates sah sich allerlei Widerständen gegenüber und musste sich eben zurückziehen, da so Vieles bereits im Argen lag.“

Doch vielleicht mag auch bei diesem Fortschrittsgläubigen der Häufelschluss gelingen: Korn um Korn wird gelegt, nach jedem einzelnen, wird er befragt: „Nun – und ist es jetzt ein Haufen?“ – … und irgendwann ist er in der Bredouille.


Fazit: eine behelfsmäßige Definition der Erbsünde

Soll heißen, mir scheint es, wir fänden uns bei allem Fortschritt in so vielem Negativen wieder, dass ich selbst, wenn ich ähnlich konsequent wie Sokrates lebte, dem Daimon, nicht immer gehorchen könnte, wenn er mir davon abrät, dieses oder jenes zu tun, mich aus diesem oder jenem rauszuhalten.

Als meine Schwäche ist es Sünde; insofern es aber auch unverschuldet-verschuldet ist, ist es Erbsünde: die kumulierte Schwäche, all der vorangegangenen Generationen, die einem von kleinauf entgegensteht – und wohl mehr als nur das. (Irgendwo hier liegt dann wohl die Theologie.)

Wir haben nun also zumindest mal dieses behelfsmäßige Verständnis der Sünde – und der Erbsünde.

Jetzt zur eigentlichen Frage.

Was heißt das nun für dich, liebe:r Leser:in?

Lass dein Lesen hier gern gut sein – und frag dich: „Was heißt das aber nun für mich?“ Bezieh es auf dein Leben. Wenn du gestrickt bist wie ich, dann lass dich nicht davon abhalten, dass dir deine Gedanken viel zu klein erscheinen: Wo bist du unverschuldet in Schuld geraten? Wo bist du selbstverschuldet in Schuld geraten – und kehrst auf dem Weg nicht um?

Also: Bezieh es auf dein Leben. Das Wichtigere verpasst du, wenn du weiterliest.


Unweit des Geigelsteins.

Denk!, werte:r Leser:in, denk! Was nun folgt wird auch etwas wirrer.

Bei so einem schweren Thema, braucht es ein lockeres Bild. Ich befürchte: Zu viel des Ernstes und der Strenge lässt einen wohl doch verkümmern. Mir missenden Ernst Vorwerfenden begegne ich mit dem Hinweis darauf, dass was der Gedanke der Erbsünde bedeutet jede:r für sich beantworten muss – und damit, dass vom Lesen des Weiteren zugunsten einer Selbstprüfung bereits abgeraten wurde.

Also: Was bedeutet es für dich?

Vielleicht steht am Ende eines solchen Prozesses, der dann ein paar Monate oder noch viel länger gehen mag, die Erkenntnis, dass du schuldig bist und es in dieser Welt weiter werden wirst.


Und vielleicht heißt das für dich weiter, dass du dir (all dem Vorherigen zum Trotz!) Sokrates mehr als Kierkegaard zum Vorbild nehmen willst. Denn in seiner Direktheit und seiner Lebensnähe, vor allem natürlich in seinem Vertrauen auf die innere Stimme soll Sokrates dir Vorbild sein.

[Und du erinnerst dich, dass doch in eben diesem Blogbeitrag gerade noch stand, dass Sokrates heute gekrümmt am Boden läge!, niedergeschrien von der peitschenden Stimme seines Daimons.]

Vermutlich fürchtest du dich: „Selbst, wenn ich wie Sokrates glauben könnte, nicht bereits im Unrecht oder in der Unwahrheit zu sein, könnte ich den Mut des Sokrates nicht aufbringen – im Leben so unbedingt nach der Wahrheit zu streben.“ Und dafür hast du gute Gründe … und es werden immer mehr.

Doch dann regt es sich in dir: Du hoffst – willst den sokratischen Mut noch entwickeln und ihn insofern als Vorbild nehmen. Sagst zu dir: „Immerhin war Sokrates bei seiner Verteidigung auch einige Jahre älter als ich es jetzt bin – er hatte mehr Zeit, seine Tugend zu üben.“ – Und solltest du älter sein, als Sokrates es damals war (~ 70 Jahre), so mag er aus anderen Gründen weiter gewesen sein, als du es jetzt bist. Du kommst zum Schluss: Es gibt keinen Grund, sich die Tugend nicht zum Ziel zu nehmen.

Und doch: Deine Ausgangssituation bleibt eine andere – eine, die sich bereits in Schuld befindet und dieser nicht entkommen kann. Du lebst in sündigen Zeiten.

Es mag Menschen geben, die heute leben und sich bspw. in ein Eremitentum zurückziehen können – und damit vielleicht sich entsprechen und ihr Richtiges tun. Du … bist das aber nicht.

Du glaubst aufrichtig, ein anderer bzw. eine andere zu sein – und insofern bleibst du Kierkegaard mit seinem subjektiven Wahrheitsverständnis treu: „denn nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich.“ (E/O: 933) Deine Wahrheit ist keine vollkommen zurückgezogene, keine vollkommen abgekehrte; sie ist eine, die auch sehen kann, dass es gut ist.

Ja, an manchen Stellen bleibst du Kierkegaard treu:

Der Mensch ist eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit […].

KzT: 8

Und so ist Teil deiner Synthesis auch die Notwendigkeit und die Endlichkeit: deine soziale Situation, dein Charakter, dein Schicksal, deine Privilegien, deine bereits getroffenen Entscheidungen, du – obwohl es sich geworfen anfühlt, in eine bestimmte Zeit gesetzt. Du musst Verantwortung übernehmen. Deine dir Lieben werden älter, bauen ab – du wirst älter, baust ab. Du ahnst: Wenn du dich in dieser Welt ausschließlich gegen alles stemmst, was Unrecht ist, verkümmerst du zu einem bloßen Nichts. Und die Stimme schreit!

Vielleicht sagst du dir: “Um die Stärke zu finden, dem Negativen in der Welt in meiner Apologie gegenüberzutreten, glaube ich, dass ich auch einen Halt in ihr und Handwerkszeug aus ihr brauche.” Und während du es zu dir sagst, beißt du dir schon auf die Lippen. Denn du weißt, da ist die Waage schon gefährlich nah dran: zu kippen – gen Verendlichung. Bist du bereits dabei, deine Freiheit und Unendlichkeit nicht ernst zu nehmen?

Wie versöhnst du es also?

Du hast keine Antwort. Ich habe keine für dich. Und doch: Du weißt, du kannst nichts Wahres in die Welt bringen, ohne über das hinauszugehen, was bloß weltlich ist; du weißt auch: Du sollst es nicht unversucht lassen. Und zu einem bloßen Nichts zu verkümmern heißt genau das: Es unversucht lassen.

Den sokratischen Mut also, den willst du entwickeln. Das Gute, Wahre, Schöne zum Ziel haben, damit wäre doch – auch nachdem du dich als sündig erkannt hast – schon viel gewonnen; auch in einer multiperspektivischen Zeit, wo jede Wissenschaft ihre Wahrheit zu haben scheint, wäre damit doch schon viel gewonnen. Und da stimmt ja auch Kierkegaard mit dir überein: Die Unwissenheit, die alles war, was Sokrates blieb und ihn zum weisesten Mann gemacht hat, tut not “in Zeiten wie den gegenwärtigen, die sich verirrt haben in gar vielem leeren aufblähenden und unfruchtbaren Wissen.” (KzT: 89) Insofern … vielleicht erlaubst du dir ein wenig griechische Naivität; zumindest so viel, wie es braucht, um nicht zu verkümmern.

Jener Grieche blieb der Wahrheit nicht nur treu – er blieb der Wahrheit auch aufrecht in der Welt stehend treu. Und um diesen Teil in dir ein wenig Nahrung zu geben, um ihm zu versichern, dass es doch einen Sinn hat, es zu versuchen, liest du nochmal in die Apologie:

Und wenn ich wiederum sage, daß ja eben dies das größte Gut für den Menschen ist, täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient gelebt zu werden, das werdet ihr mir noch weniger glauben, wenn ich es sage.

Apologie: 38a

So willst du dein Leben prüfen: erbaulich streng – das heißt: nicht zu streng, als dass es nicht auch erbaulich sein könnte. Du willst dein Leben streng prüfen, auf dass es erbaulich werde.


ENDE


Literatur- und Siglenverzeichnis

ApologiePlaton. (~ 400 v.Chr.). Ἀπολογία Σωκράτους Apología Sōkrátous.

[Des Sokrates Apologie. (1973). Übers. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt.]
Buch der UnruhePessoa, Fernando. (1982). Livro do Desassossego.

[Das Buch der Unruhe. (2015). Übers. Inés Koebel; Hrsg.: Richard Zenith. FISCHER Taschenbuch: Frankfurt am Main.]
E/OKierkegaard, Søren Aabye. (1843). Enten – Eller. Et Livs-Fragment, udgivet af Victor Eremita.

[Entweder – Oder. (2005, 12. Auflage 2014). Übers.: Heinrich Fauteck. Hrsg.: Hermann Diem & Walter Rest. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG: München.]
FuZKierkegaard, Søren Aabye. (1843). Frygt og Bæven.

[Furcht und Zittern. (2005, 8. Auflage 2019). Übers.: Günther Jungbluth. Hrsg.: Hermann Diem & Walter Rest. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG: München.]
KzTKierkegaard, Søren Aabye. (1849b). Sygdommen til Døden.

[Die Krankheit zum Tode. (2004). Übers.: Emanuel Hirsch. Grevenberg Verlag Dr. Ruff & Co. OHG: Simmerath.]
PBKierkegaard, Søren Aabye. (1844). Philosophiske Smuler.

[Philosophische Brocken. (2003). Übers.: Emanuel Hirsch. Grevenberg Verlag Dr. Ruff & Co. OHG: Simmerath.]

Danksagung

Ich danke martha baer dafür, dass sie die Adressatin einer Mail war, die große Teile dieses Beitrag bereits enthielt – und ich so, nach einer viel zu langen Dürreperiode, mal wieder Stoff für einen Beitrag hatte.