Vorwort

“Die Wahrheit, die triumphiert, ist das Lächerlichste.” (2013a) Ein großer Satz, den ich einmal gelesen seit Monaten nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Nein nein, keine Angst – werte Leserin, werter Leser (*eine Verbeugung*) – ich bin noch nicht so tief gehoben, dass ich wirklich wüsste, was er bedeutete; dass ich wüsste, was es hieße, wenn er dann eben doch wahr wäre – manchmal läuft es einem da ja durchaus eisig den Rücken runter. Bei der Vorstellung … er könnte … . Naja, aber … nichtsdestotrotz … vielleicht schaffe ich es ja, in einer fernen Zukunft, dass ich wirklich verstehe, was es bedeutet, wenn er wahr ist.

Ich stelle es mir vor, wie damals, als ich als achtjähriger Junge bei einem Winterspaziergang in den Hechtsee gefallen war – noch ein wenig ungemütlicher allerdings, denn da ist ja dann niemand, um mir seine Jacke zu reichen und mich zu wärmen.

… in die Zisterne gefallen …

Die letzten, eigentlich ja kurzen Momente vor dem Eindringen kamen mir beinahe endlos vor: Ich hatte es doch immer gewusst, dass irgendwas nicht stimmt – wenn sich das Licht oben immer weiter entfernt und um einen herum nur noch kalter Beton ist, spürt man das einfach, selbst wenn die Augen es nicht wahrhaben wollen.

Doch dann ging alles ganz schnell: Noch vor der ersten Berührung, schnellt die Kälte, wie die Fühler einer Schnecke, in mich. Sie war eben eigentlich schon immer da gewesen. Das Wasser, als wäre es noch unter dem Gefrierpunkt, umschließt mich. Und sie (die Kälte) sitzt jetzt in mir, wartet. Worauf? Ich glaube, auf eine Handlung – vor der ich zittere. Denn an dieser Stelle müsste ich eigentlich, wenn ich ein guter Protagonist wäre, auf eine Antwort kommen; hier müsste mir eigentlich diese kalte Dunkelheit den Weg ausleuchten. Doch das schaffe ich nicht. Ich bin überwältigt. Was wird hier von mir verlangt?

Und dann werde ich meiner Umgebung gewahr, sehe – … und damit ist der Augenblick, in dem es hätte geschehen können, vorbei. Ich finde mich im Innern einer unter der Schicht Raureif noch immer vernehmbar grau-in-grauen Zisterne wieder. Ihre Wände verströmen auch in dieser Kälte noch einen ledrigen Geruch. Und ich weiß um sie, ehe ich sie sehe: die Leiter. Solange ich noch irgendeinen Grund habe zu klettern, ertrinke ich nicht in der Zisterne, verschmutze nicht das erweckende Eiswasser – und da ist noch etwas, an das ich mich klammere, also klettere ich. Meine vom Wasser feuchten Hände kleben an den Sprossen fest, ich reiße sie los, dabei die Haut von meinen Handflächen, ziehe mir also den Stoff von meiner Jacke über die Hände – jetzt klebt sie von innen an ihnen. Nacktes Fleisch auf Stoff – dieses Gefühl. Ich klettere weiter. Sprosse um Sprosse, letztlich ist es dann gar nicht so weit, wie man vielleicht meinen könnte.

Draußen meine ich einen eisigen Wind zu vernehmen, ich meine die schwere, durchnässte Jacke nicht loszuwerden, doch dem ist natürlich nicht so: weder trage ich auch nur eine Jacke, noch ist hier irgendeine Form von nennenswertem Wetter. Denn in der Fußgängerzone dieses auf Zerstreuung angelegten Altstadtkerns einer auf Zerstreuung angelegten Welt ist die Zisterne bereits verschwunden, meine Handflächen sind unverletzt und der ledrige Geruch – etwas, das in mir immer Übelkeit auslöste – ist ersetzt durch das süße Parfüm einer jungen Frau. Vielleicht ist der Geruch aber auch nur schwächer geworden und der ihrige übertönt den vorherigen … und vielleicht riecht auch diese Süße irgendwie nach Fäulnis. Sicher bin ich mir in keinem der Fälle.

Naja. Aber ich bin ja in der Altstadt. Hier schaut mich alles verdutzt, ja befremdet an. Sie wissen nicht, was sie mit diesem bibbernden Kerl machen sollen. Denn die Temperaturen sind, dank außen an der Kuppel angebrachten Thermostat, gemäßigt: angenehme 23 Grad – immer. Warum sollte heute auch ein Einzelner noch zittern? Es gibt keinen Grund zu zittern. … Außer … es ist wieder einer von diesen Kranken – besser Abstand halten.

Das Bild wurde von einer KI generiert.

An der Bushaltestelle

Der nächste Bus kommt in sieben Minuten. An der E-Bus-Haltestelle, wo noch immer grelle Anzeigetafeln in einem dumpfen Rhythmus pochen, steht eine vertrauenswürdige aussehende Frau Anfang 30 in einem lachsfarbenen Baumwollpullover: unaufdringlich und modern gekleidet. Sie lächelt mich an, geht ein paar Schritte auf mich zu, spricht mich an und begleitet mich zu dem Sitzplatz: „Wie geht es Ihnen? Sie sehen etwas müde und erschöpft aus.“ Weil ich keine Reaktion zeige, fährt sie fort: „VitaBoost gibt Ihnen Ihre Energie zurück – mit einer liebevoll, individuell auf Sie zugeschnittenen Rezeptur. Fühlen Sie sich wieder wie 25 – und sehen Sie auch so aus.“

Ich zittere, antworte nicht.

Immer wieder habe ich mir in den letzen Jahren gesagt, was mir auch Bekannte aus meinem BWL-Studium versichert hätten: „Es ist sicherlich nur ein B12-Mangel, nicht genug Magnesium oder so.“ Die junge Frau verschwindet und beinahe nahtlos erscheint an ihrem Platz ein Mann nur ein paar Jahre jünger als ich. Der Mittfünfziger setzt sich neben mich, wartet zwei, drei Sekunden höflich ab und empfiehlt mir dann einen Film für den Feierabend. „Aber erzählen Sie mir doch einfach ein wenig von sich: Was schauen Sie denn gerne für Filme?“, sagt der Mann und wir unterhalten uns kurz darüber, was denn in letzter Zeit noch so rausgekommen ist und ob die Filme in den letzten Jahren nun schlechter wurden oder nicht; ob es immer nur die selben Filme aus dem vorhergehenden Jahrhundert waren, die wieder aufgewärmt und verkauft wurden, oder nicht.

Dann sind die sieben Minuten auch vorbei. Das Hologramm verschwindet. Der Bus kommt – und ich steige ein.

Das Bild wurde von einer KI generiert.

Die Wahrheit, die triumphiert I

Am Abend, zuhause, denke ich an ein Interview, das ich vor ein paar Tagen gesehen habe. Ein Universitätsprofessor für Philosophie sagte dort: „Dass es Fortschritt gibt und er echt ist, sieht man ja schon daran, wenn man die Leute fragt, wie viel Geld man ihnen zahlen müsste, um sich in eine andere Zeit zurückversetzen zu lassen. Fünf oder zehn Jahre, das geht ja noch, aber das wird ganz schnell unbezahlbar.“ „Die Menschen wissen ja nur um das, was sie dann verlören, nicht um das was sie bereits verloren haben.“, denke ich und dabei fühle ich mich noch immer, wie in dem Moment, als ich in der Zisterne erwachte: Mir ist kalt, eiskalt. Das ändert sich auch nicht als ich auf meiner Couch sitze. „Bezeichnend ist“, denke ich weiter, „dass, was auch immer das ist was sie bereits verloren haben könnten, wir uns zumindest sicher sein können, dass in unserer Waagschale Unmengen an Geld schwerer wiegen würden.“ Und dann wird es auch langsam nachts.

Ich denke an Kierkegaards Bischof (vgl. 2004: 91), wie er in feinem Gewand durch die Straßen zieht und beteuert verstanden zu haben, was es heißt, dass Christus einhergegangen ist in der Gestalt eines geringen Knechts: arm, verachtet, bespottet, ja bespien; lächerlich war dieser Bischof, der um jeden Preis versucht, es sich angenehm einzurichten auf Erden, nach Ehre und Ansehen strebt.

Das war das Beispiel seiner Zeit dafür, dass die Wahrheit, die triumphiert, das Lächerlichste ist.

Die Wahrheit, die triumphiert II

Von Chiara (einer Freundin, die Geschichte studierte) habe ich vor Jahren einmal gehört, dass während des Zarenreichs Sibirien neben einiger Tribut-Zahlungen (vor allem Rentier- und andere Wildtierfelle) kulturell noch ziemlich unangetastet von dem es sich angeeignet habenden Rest-Russland blieb. Obwohl es politisch bereits Teil Russlands war. Erst während der Sowjet-Zeit wurde systematisch ihre Kultur ausgelöscht, die Sibirer*innen wurden gezwungen Russisch zu sprechen und das zentralisierte, getaktete System anzunehmen: Um die Produktivität messen zu können, musste nun also festgelegte Zeiten auf die Arbeit verwendet werden und so wurde ihnen endlich auch Freizeit geschenkt. Nur, dass die Rentierherden so nicht mehr richtig versorgt wurden und die Sibirer*innen für ihre folglich mangelnde Produktivität bestraft wurden. Das Problem war dabei unter anderem, dass ihre Lebensweise, die die Sowjets im Namen des Kommunismus vernichteten, noch viel mehr auf Ideen von gemeinschaftlicher Teilung aufgebaut war, als es die ihnen aufgezwungene Sowjet-Bürokratie tat.

Die Wahrheit, die triumphiert, ist das Lächerlichste.

Der vollumfängliche Triumph

Aber das ist heute natürlich alles „Schnee von gestern“. Die Wahrheit, die im darauf folgenden Jahrhundert in einer nie da gewesenen Vollumfänglichkeit triumphierte, war auch dagegen noch ziemlich lächerlich: Wir verwarfen nach einem gefährlichen Gott, die noch gefährlicheren Utopien, „befreiten uns also vom Joch der Religion“ und legten uns Fesseln an, aus denen wir uns dann nicht befreien konnten; brachten alles unter ein System, welches zur höchsten Aufgabe eines jeden Menschen machte, seinen Platz in einem endlosen Zyklus von Konsum und Produktion zu finden – das war die Wahrheit, die dann triumphierte.

Und diese Wahrheit spie triumphierende, gedankenlose Exemplare aus, die darin kein großes Problem sahen und die ein paar wenige Kranke mit ihren Parolen noch in ihren Träumen heimsuchten: selbstzufrieden lachend, aus einem Nichts, in dem sie sich noch wohl fühlten, auftauchend, flirrend. „Es ist alles nur Einbildung.“, sage ich mir, wie mir ja auch mein Therapeut versicherte.

Dass sie triumphierten jedoch, dass das Lächerlichste triumphierte – ist keine Einbildung. Das musste auch mein Therapeut eingestehen; „dass sie triumphierte war kaum zu ertragen, ja zum Weinen war es“, sagte ich ihm.

Was wir verloren haben?

„Ob es sich damals, bei Kierkegaard, wirklich noch ansetzen hatte lassen, unter Tränen einen zweiten Anfang hatte machen lassen? Was glauben Sie, Herr Ebele?“, fragte ich ihn in unserer ersten Sitzung – und ich erinnere mich nicht mehr genau an seine Antwort. Ich glaube, er wies darauf hin, dass es häufig ein Problem bei Depressiven ist, dass ihre Hobbies keine gute Ablenkung sind; dass sie sich auch in ihrer Freizeit noch mit schwer auf einem lastenden Themen auseinandersetzten.

Und damit hatte er einen Punkt: um egal wogegen anzugehen, musste man irgendwoher Kraft ziehen. Nur was wenn die Themen einen eben von überall her anspringen?

Schwermut, Angst, Verzweiflung, die Negativität stellt einen auch heute noch vor das Nichts. Das lässt sich kaum leugnen. Und der Sprung war auch damals, bei Kierkegaard, schon unwahrscheinlich gewesen – viel wahrscheinlicher war es, dass man sich innerhalb der Masse versteckte, dann konnte man ja nicht allzu viel verkehrt machen; um es noch einmal mit Kierkegaards Worten zu wiederholen: viel wahrscheinlicher war auch damals schon, dass man nicht lachte, wenn

in einem prachtvollen Dom der hochwohlgeborene, hochwürdige Geheime General-Ober-Hof-Prediger, der erwählte Liebling der vornehmen Welt, vor einen auserwählten Kreis von Auserwählten tritt und gerührt über den von ihm selbst ausgewählten Text predigt: „Gott hat das in der Welt Geringe und Verachtete auserwählt“.

Sören Kierkegaard (vgl. 2013b)

Doch hatte es damals wirklich etwas gegeben, wohin es sich angesichts des Nichts springen lies? „Du sollst glauben.“ und „Was du sollst, kannst du.„, soll es damals geheißen haben (vgl. 2004: 116 ff.).

Ich zittere.

Kierkegaards Faden, um die Teile zusammenzusetzen, mir mein mich wärmendes Hemd zu nähen, hatte angeblich einen Knopf am Ende gehabt. Doch ich konnte ihn nicht finden und ihn mir auch nicht selbst knüpfen. Ich las die Bergpredigt, den Römerbrief, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, die Geschichte vom Sündenfall, usw. – jeden Tag mindestens eine Stunde, über Jahre hinweg, fand aber nichts als einen schwachen Nachhall in ihnen: Eine Weile sagten die Alten noch, dort wären Archetypen festgehalten, sie sprächen zu jedem Menschen, es läge etwas zutiefst Menschliches in ihnen. Doch … sie starben langsam aus, der Knopf ließ sich nicht mehr finden, sodass es Sinn ergäbe zu ziehen … einzustechen und wieder zu ziehen, einzustechen und wieder zu ziehen, jeden Tag wieder zu ziehen.

Wenn es da wirklich mal etwas gegeben hatte, dann hatten wir es verloren. Und jetzt gab es das alles nicht mehr.

Die Wahrheit, die dann nachfolgte, hatte triumphiert – vollumfänglich. Denn es gab auch in unserer Vorstellung nichts mehr, das noch denkbar gewesen wäre. Uns war die Zukunft verloren gegangen. „Natürlich, das System ist nicht perfekt und es verursacht auch eine Menge Leid – aber alles andere ist eben nur noch schlechter. Und, keine Angst, ihr tragt auch nicht die Verantwortung dafür, wenn das alles gegen die Wand fährt. Genau genommen, trägt die niemand: Wen soll man auch verantwortlich machen, wenn jede und jeder daran teilhat? Welcher Richter möchte da einem oder einer Einzelnen Schuld zusprechen? All dem hat man sich ja praktisch nicht entziehen können und außerdem – ich wiederhole: die Alternativen! … sind nunmal keine. Also schön weitermachen. Nur nicht hinschauen.“

Die Wahrheit, die triumphiert, ist das Lächerlichste.

Ich schaue aus dem Fenster, zittere. Da ist kein Sternenhimmel mehr, nur eine riesige, gekrümmte Leinwand, die mir auf Knopfdruck alle Zerstreuung bietet, die die letzten 50 Jahre Unterhaltungsindustrie aus ein paar letzten Kreativen herausgepresst haben – und (gegen Bezahlung) zeigt sie natürlich auch den Sternenhimmel. Und dieser Sternenhimmel ist ja auch besser als das Original – ich kann ja sogar hineinzoomen, wohin ich auch zoomen will und soweit ich zoomen will, mich versichern, dass sich dort nichts finden lässt. Vor allem aber: sehe ich so nicht, was da draußen, außerhalb der Kuppel eigentlich vor sich geht – und kein gesunder Mensch würde das auch sehen wollen: Nein, der gesunde Mensch setzt sich damit auseinander, wie er genug produziert und was er so konsumiert, um ein gutes Leben zu leben.

Um die Dinge da draußen kümmern sich andere, die in den Peripheriegebieten leben, dafür zahlen wir Steuern, dass sie das fern halten – von uns. Und, wie es zuvor mit den Schlachtereibetrieben und der Käfighaltung gewesen war, interessierte auch das dann nur ein paar vereinzelte, unglückliche Gestalten, die Probleme sahen, wo man nun wirklich keine sehen musste.

Vielleicht die Befindlichkeit, der Raum zu geben ist

Die Wahrheit, die triumphiert, ist das Lächerlichste.

Und vor dem, was also meine Aufgabe gewesen wäre, zittere ich. Zu spät, wie mir jetzt scheint. Ich hätte nicht ein Leben lang warten sollen. Doch schlimmer: Ich weiß nicht, wo heute noch irgendjemand ansetzen sollte, um etwas zu finden; frage mich: Wie groß ist mein Anteil daran? Wie lange hätte es sich noch, obwohl der Gedanke an eine Veränderung und Alternativen absurd wirkte, gegen ihren Triumph aufstehen lassen? Vor allem aber: Was hätte ich tun können – weil ich es sollte?


Quellen

  • Kierkegaard, Søren Aabye. (1849). Sygdommen til Døden. [Die Krankheit zum Tode. (2004). Übers.: Emanuel Hirsch. Grevenberg Verlag Dr. Ruff & Co. OHG: Simmerath.]
  • Burkhard, Conrad. (2013a). Die indirekte Mitteilung – vom hl. Dominikus zu Sören Kierkegaard. Rotsinn: https://rotsinn.wordpress.com/2013/09/02/die-indirekte-mitteilung-vom-hl-dominikus-zu-soren-kierkegaard/, aufgerufen am 29. Dezember 2023.
  • Deutschlandfunk. (2013b). Ein Mann voller Abgründe. https://www.deutschlandfunkkultur.de/ein-mann-voller-abgruende-102.html, abgerufen am 7. Januar 2024.

Und ein paar Gedanken aus Mark Fishers Capitalist Realism – man könnte das hier aber auch überschreiben mit „Videos, die niemanden überzeugen werden, der*die es nicht bereits fühlt.“

Mark Fisher: Capitalist Realism and Business Ontology
Ghosts of Mark Fisher: Hauntology, Lost Futures, and Depression

Und das mit Sibirien habe ich aus diesem Video:

Why Siberians Want to Secede from Russia