Vorwort

Heute möchte ich einem meist eher unfreiwilliger Zeitvertreib ein wenig mehr Raum geben. Er besteht darin, Lebenslinien in vor- und rückwärtige Richtung weiterzuspinnen, woraus dann mehr ein Kokon als ein Netz oder ein langer Faden entsteht.  

Ausgangspunkt ist dabei ein (teils vermeintlicher) Einblick in das rastlos im Inneren nach Erklärungen suchende Wesen eines Menschen; hin und her trabt es, hin und her schleicht es – versucht immerzu, sich sein Leben zu einer Geschichte zu spinnen, über die es iteriert, die es sich ein ums andere Mal aufs Neue erzählt: ein übersehener Seiteneffekt[1] hier, eine neue Note da, eine Variation dort; am Ende wird in jedem Fall wieder eine Geschichte zurückgeliefert – und der Prozess beginnt von vorne.  

Dann kommt es vor, dass ich – beispielsweise abseits irgendeines sozialen Events – herumsitze und einer dieser Menschen besucht mich, stellt sich zunächst als diese oder jener vor, „Marco! Hier ist Christina, weißt du noch?“, beginnt mir Erklärungen für Verhalten, ihre Kleidung oder auch den weiteren Lebensweg nahezubringen; als müsste sie mich davon überzeugen, warum das schon alles ganz richtig so ist, wie sie das macht. 

Nicht selten entwickelt so eine Vorstellungen eines sich eben noch als Christina vorstellende Menschen dann ein Eigenleben, nicht immer sind diese Vorstellungen dann aufdringlich, manch eine gesellt sich auch nur ganz schüchtern zu mir; eines haben sie aber eben doch gemein, irgendwann verschlucken sie sich selbst, stehen wiederum als ein:e ganz andere:r vor mir. 

Treibt man dieses Spiel eine Weile und der Ausgangspunkt rückt notgedrungen immer weiter in Ferne, bleiben letztlich allerlei Vorstellung übrig, die mittlerweile rein gar nichts mehr mit irgendwelchen Menschen, die ich kenne oder kannte, zu tun haben. Zumindest so viel kann ich versichern. …

Vorstellung I – Das Mädchen mit dem Geistervater

Ich kann mir einen Kapitän vorstellen, der einen Totenkopf in seiner Kajüte hat, um sich daran zu erinnern, dass das Leben jederzeit vorbei sein kann. Ich kann mir vorstellen, dass ein Backenzahn dieses Totenkopfes locker ist und ich sehe ihn vor mir, wie er in das Gebiss greift, mit den Fingern über einen, den nächsten und den nächsten Zahn fährt, bis er am lockeren Backenzahn angekommen ist, ihn herausnimmt und in seiner Hosentasche verschwinden lässt. Jedes Mal, wenn er seine Kajüte verlässt. 

Ich kann mir vorstellen, dass er das auch an einem Abend in Marseille tat. Und, dass er die Bedeutung dieses Backenzahns für ihn als eine Art kleines Geheimnis unter den Augen der „guten Mutter“ (La Bonne Mère) mit einer Studentin auf Studienfahrt teilt. Ebenso wie ich mir vorstellen kann, dass eben jene Geschichte das einzige, winzige Detail ist, das ein junges Mädchen von ihrem Vater weiß. 

Ich kann mir vorstellen, dass irgendwann, im Leben dieses Mädchens – sie war da vielleicht sechs, sieben Jahre alt – Männer in ihrem Leben aufgetaucht waren. Diese Männer, die Freunde ihrer Mutter, waren dabei immer erfolgreiche, meist verheiratete Geschäftsmänner gewesen. Ja, sie hatten eine andere Familie, aber hier, bei ihrer Mutter, hatten sie einen Zufluchtsort; hier sah man sie noch als die, die sie doch eigentlich waren; hier gab es kaum Pflichten; hier war alles sehr viel ungezwungener: Und wenn sie gingen, ließen sie alles zurück, nichts band sie. 

Und sonst gab es hier eben noch sie, das kleine Mädchen. Und sie störte ja auch kaum. Die meiste Zeit saß sie ohnehin oben in ihrem Zimmer, beschäftigte sich mit diesem oder jenem. Sie hatte sogar ein Dachfenster, aus dem sie manchmal raus, auf das Dach des Hauses stieg und dort Stunde um Stunde in den Himmel und auf die anderen Häuser der Stadt schaute.  

Besonders in den ersten Tagen und Wochen waren die Männer zu ihr oft wirklich freundlich. Immer wieder brachten sie ihr sogar Geschenke. Diese Freundlichkeit hatte sie anfangs versucht zu erwidern. Einige Male hatte sie kleine Bilder für sie gemalt, für einen sogar einmal ein Gedicht geschrieben. 

Das war dann allerdings etwas gewesen, das den Männern … ja geradezu unangenehm gewesen zu sein schien und so hatte sie nur noch Geschenke entgegengenommen, sich brav bedankt und war wieder zurück in ihr Zimmer gegangen. 

Einer dieser Männer war eine ganze Weile bei ihr und ihrer Mutter geblieben. Eines Tages saß sie, wiedermal in ihrem Zimmer. Der Mann und ihre Mutter standen unten, sprachen miteinander über irgendwelche Zahlen; da rief sie seinen Namen nach unten. 

Freundlich sagte er: „Ja?“ Dann sie: „Darf ich dich eigentlich Papa nennen?“ Es folgte eine Pause. Sie wartete. … Wartete.  Die eigentliche Reaktion tut dann auch gar nichts mehr zur Sache. Der:die Leser:in mag sich denken, was er:sie will. Ich kann nur sagen, wie es ausging: Äußerlich hatte die Frage nichts verändert, noch immer saß sie in ihrem Zimmer, noch immer ging sie Tag um Tag aufs Dach, noch immer nannte sie ihn bei seinem Vornamen. Ins Innere war spätestens an dieser Stelle allerdings eine kleine Frage gesetzt, die ganz einfach mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden konnte: “Ja, … „, „Nein, …“, „Ja, …“, „Nein, …“. 

Der Mann verbrachte daraufhin noch ein paar Jahre bei ihrer schönen Mutter – dann verschwand auch er wieder aus ihrem Leben. 

„Ja, … „, „Nein, …“, „Ja, …“, „Nein, …“. 

In der Zwischenzeit war sie 12, 13 Jahre alt geworden. Sie hatte jetzt begonnen, zunächst heimlich, allein in ihrem Zimmer, ein Armband mit Totenkopf daran zu tragen … und langsam mit dem Finger darüber zu fahren: über das Leder, den Totenkopf, das Leder dahinter … und wieder zurück, vor und zurück – immer, wenn sie ihr Dach verließ – vor und zurück. 

Ein wenig später begann sie dann zu jeder Jahreszeit überlange Hoodies, darunter das Armband, zu tragen. 

Während all der Zeit arbeitete die Mutter viel. Sie hatte eine fleißige Mutter. Eine fleißige Mutter, die alles dafür tat, dass sie eine einfachere Zukunft, einen guten Job und ein sicheres Einkommen haben würde. Bald macht das Mädchen dann Abitur, ihre Mutter war stolz; sie begann zu studieren, ihre Mutter freute sich. 

Während ihres Studiums hatte sie die viele freie Zeit genutzt, um weiter Bücher aus diesem oder jenem Gebiet zu lesen. In einem von ihnen las sie, dass der schöpferische Mann, dem es häufig an einer Vaterfigur im Leben fehlte; dass dieser schöpferische Mann immer kindlicher, weiblicher als der Normalmann bleiben würde. Sie hatte weiter und weiter gelesen, doch leider hatte sie nicht herausgefunden, was das nun für sie bedeuten sollte: Was sie immer mehr bleiben würde als die „Normalfrau“ … männlicher und erwachsener?, noch weiblicher und noch kindlicher? Sie hatte keine Antwort gefunden. Sie hielt sich für durchaus „normalweiblich“,  was auch immer das ist … vielleicht ein wenig verlorener als viele andere, aber nicht unglücklich … sie wusste nicht, was das nun also für sie bedeutete, aber … gegen etwas kindlichere, ja gegen etwas weiblichere Männer hatte sie ohnehin nichts einzuwenden: Unter anderem feilten sich diese nämlich häufiger die Fingernägel, als ihre „normalmännlichen“ Pendants. Das war doch immerhin etwas. 

Vorstellung II – Ein weiterer verlorener Mensch – und die Liebe

Halsketten. 5., 6., 7. Klasse und der Junge beginnt Halsketten zu tragen, wie so viele eben. Bald sind es mehrere, teils drei von ihnen übereinander: zwei mit Kreuzen, eins mit einer Muschel; dazu noch ein Armband mit Totenkopf; Yggdrasil auf der Schultasche; auf dem linken Handgelenk ein weiteres Kreuz, das er jeden Tag mit dem Kugelschreiber nachzieht. Dann nannte man ihn irgendwann „Den Jungen mit den Halsketten“ und später in der Oberstufe, fragte ihn ein Mädchen dann folgerichtig, wie das denn war, wenn er mit einem Mädchen schliefe, würden die ganzen Ketten da nicht stören? 

Ja, lieber Junge mit den Halsketten: Würden die ganzen Ketten da nicht stören?

Ihre Frage beantwortete er nicht – uns, liebe Leserin, lieber Leser, vertraut er jedoch zumindest seine Gedanken an. Zum einen beantwortete er ihre Frage nicht, da er zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich keinerlei Erfahrungen mit Mädchen vorzuweisen hatte; zum anderen, weil dieses Mädchen ein Genussmensch war. Sie verstand nichts davon, was Liebe eigentlich war und belächelte ihn für seine Vorstellungen. 

Nun springen wir ein paar Jahre vor. Und den beiden geht das so, wie es eben manchmal mit Jugendfreund:innen ist: Man verliert zwar den Kontakt, sich aber irgendwie auch nicht ganz aus den Augen.

Es ist ein Geburtstag, wir sitzen auf einer Parkbank. Jetzt spricht sie davon, dass sie „liebte“ … Liebe hatte sie schon wieder gefunden – sie bestand, wie man zusammenfassen konnte, in zuverlässige Orgasmen, einer versprochenen Ewigkeit – im Guten, wie im Schlechten, meist im Schlechten, ja selbst, wenn sie es teils noch schlechter machte – und darin, ordentlich Haushalt zu führen, gemeinsam zu funktionieren.  

Ja, auch heute unterteilte er noch, wenn auch etwas vorsichtiger, in Genuss- und Sinnmenschen. Noch immer war er Sinnmensch, noch immer dachte er als Genussmensch könnte doch alles so viel leichter sein: „Als Genussmensch könnte ich einen ganzen Biergarten meine Freunde nennen, solange ich mich nur mit ihnen betrinken konnte; als Genussmensch konnte ich mir mehr oder weniger sicher sein, dass alles schon gerecht zuginge, solange es mir nur gut geht.“ 

„Werde Asekt!“, „Werde Asketin!“, würde er jedem Genussmenschen raten … „und dir wird es an nichts mangeln“ … Um das Leben zu genießen, braucht es doch nicht viel. Lag das nicht auf der Hand? Dafür musste man nun wirklich keinen Epikur oder Seneca gelesen haben.

Und das Mädchen, was rät das Mädchen ihm? 

„Vor ein paar Jahren hast du mal zu mir gesagt, dass es mir wie irgendeinem Zwerg, aus irgendeinem Märchen gehe. Er sitzt in seinem Schloss und bewacht die entführte Prinzessin. Dann ist es Sommer, ein schöner Tag und einmal hält er ein Mittagsschläfchen. Er erwacht … und sie ist fort. Und dann, hast du gesagt, zieht er seine Siebenmeilenstiefel an … und … ist schon mit dem ersten Schritte an ihr vorbei. So meinst du haste auch ich immer dem Genusse nach – so sehr, dass ich an ihm vorüberhaste. … Aber“, meint sie, „es passt doch viel besser auf dich. Der Sinn, der liegt doch vor dir auf dem Bett, du hast ihn in deinen Armen, hältst ihn in der Hand, du sitzt mit ihm auf der Parkbank … aber es reicht dir nicht, weil du von irgendwelchen weltfremden Ideen fabulierst. Du bist derjenige mit den Siebenmeilenstiefeln, der an den wahren, den echten Dingen vorbeirauscht, um die Gerechtigkeit, die Liebe, die Freiheit zu finden. Diese Ideen, die machen dich doch nur unglücklich.“ 

Dann geht sie wieder rein. 

ENDE

Fußnote

[1] – Seiteneffekt sind, soweit ich mich erinnere, beim Programmieren einer Funktion, die einen Rückgabewert liefert (ein Integer, einen String, ein HashSet oder eben eine Geschichte), schlechter Stil; beim Geschichtenspinnen scheint es mir aber mit das langweiligste, das einem Menschen geschehen kann, zu sein, seinen eigenen Geschichtsschreibeprozess so weit optimiert zu haben, dass es zu keinen unvorhergesehenen Seiteneffekten mehr kommt und die immer gleiche Geschichte ein ums andere Mal im Endlosloop läuft. Mit so einem Menschen ist nicht gut Teetrinken. 

Kierkegaardverzeichnis

(weil z.B. das Märchen von ihm kommt… auch in einer der Verwendungsweisen… jemand hastet vorüber – am Genusse.)

  • Sören Kierkegaard. (1843). Enten – Eller. Et Livs-Fragment, udgivet af Victor Eremita. [Übersetzung: Heinrich Fauteck; Herausgeber: Hermann Diem, Walter Rest. (2005; 12. Auflage 2014). Entweder – Oder. Ein Lebensfragment, herausgegeben von Victor Eremita. Deutscher Taschenbuch Verlag: München.]