Abgesonderte Teilchen; Der Sinn der Liebe; Was würden Sie anders machen, wenn…; und weitere Themen für Sie

Drei Meter von mir entfernt, draußen vor dem Fenster, mit dem Rücken zur Wand sitzt eine junge Frau. Auf ihren weit hochgerollten Socken sind nackte, an griechische Statuen erinnernde Bühnenfiguren zu sehen; dann beginnen rasierte Beine und noch vor den Knien ein hellgrüner Schottenrock. Er wäre eigentlich schwarz, hat aber so viele junge, grüne Pflanzen darauf, dass er eben eher hellgrün ist. Die junge Frau schreibt angeregt, in kleiner Schrift, mit einem lila Stift in ein Notizbuch.

Lila, das ist für mich, seit ich 16 bin, die Farbe der sexuellen Frustration und lässt mich immer an eine lila Unterhose denken, in die ich lange Zeit mit eben jenem Gedanken an die Bedeutung der Farbe Lila gestiegen bin. Eigentlich war das keine schlechte Unterhose, irgendeine italienische Marke, weiches, elastisches Material.

Daran denke ich während ich die junge Frau weiter ansehe und wenn ich jetzt nochmal genauer hinsehe, ist der Stift gar nicht lila.


Vor mir liegt Solowjow, Der Sinn der Liebe. Hinter mir steht Pablo, Der Kellner. Und mittlerweile trage ich fast ausschließlich schwarze Unterhosen.

Pablo ist mir sympathisch, mag Derrida und hat einen französischen Accent. Die Kunden im Café sprechen mal Französisch, dann Englisch, dann Deutsch mit ihm. Im Hintergrund läuft italienische Musik und die ist ein wenig zu laut, um leise, nur für mich, durch meine Kopfhörer sowas wie Microphones in 2020 zu hören.

Eine Weile sitze ich auf meinem Platz, lese abwechselnd Solowjow, meine Hausarbeit, trinke Kaffee aus Burundi, dann einen himbeerigen Espresso — woher habe ich nicht verstanden — , schreibe ein paar unbedeutende Sätze auf. Die meiste Zeit beneide ich abwechselnd die junge Frau mit den Socken um ihre Inspiration und lösche meine Sätze wieder.

Denke: “Wenn Pablo das lesen könnte, dächte er, dass ich mit Sprachphilosophie nicht so viel am Hut haben kann.” Und vermutlich hätte er recht damit.

Währenddessen fragt Solowjow unter mir, was der Sinn der Liebe ist.

Seine Antwort:

Abgesonderten Teilchen eines Weltganzen, die wir dank unseres holden Bewusstseins sind, tragen wir einen gewissermaßen intuitiven, natürlichen Egoismus in uns. Einerseits Grundprinzip unseres Seins, konkreter Lenker unseres Handelns; andererseits aber auch Verweigerer unbedingter Bedeutung anderer Menschen und Barriere hin zu einer echten Wahrheit, die nur im Weltganzen zu finden ist. Diese Bedeutung anderer Menschen können wir uns theoretisch, kraft unseres Verstandes, klar machen, aber nur die Liebe kann deren unbedingte Bedeutung unmittelbar fühlen lassen, den Egoismus in seiner konkreten Wirklichkeit treffen und seine Wurzel ausreißen. Alles andere — wie soziale, physische oder metaphysische Bedingungen der Existenz — mindern ihn nur.

Und nur die geschlechtliche Liebe kann das. “In allen übrigen Arten der Liebe [wie der Mutterliebe, der freundschaftlichen Liebe oder der Liebe zu seinem Vaterland, einer Gemeinschaft, in der man lebt] fehlt entweder die Gleichartigkeit, Gleichheit und Wechselwirkung zwischen dem Liebenden und dem Geliebten oder aber die allseitige Verschiedenheit der einander ergänzenden Eigenschaften.” (S. 20) Denn nur wenn das Männliche im Weiblichen, das Weibliche im Männlichen den selben Inhalt anders ausgedrückt findet, kann der Mensch zu einem Fleisch, zu einem realen Wesen, zu einem Individuum, einer tatsächlichen Verwirklichung werden…, die den Egoismus des abgesonderten Teilchens, den lediglichen Abglanz eines fremden Lichtes überkommt und mehr wird, dem wahren Licht, etwas Göttlichem näher kommt.

So Solowjow.


Ich bin noch immer Egozentriker— wohl auch Egoist im solowjow’schen Sinne, abgesondertes Teilchen, kein reales Wesen, nur Abglanz eines Lichtes und am Abend schwindet auch dieser Glanz. Verdorrte Pflanzen brechen von einem jetzt eben doch schwarzen Rock. Am Abend fühlt sich das alles ein wenig düster an: “Ich wollte doch nur jemanden, der mich liebt, dem ich nah sein darf, der mich zumindest ein wenig versteht, dem ich von Sorgen erzählen, dem ich Songs schicken kann.”, schreibe ich in ein Tagebuch — noch ein wenig schwärzer als meine Unterhosen.

Ich mag Solowjow. Vor allem für seine Fragen, sehr auch für das, was er auf dem Weg voller Überzeugung annimmt, ein wenig auch für seine Antworten, dafür dass er mich als abgesondertes Teilchen eines Weltganzen bezeichnet. Der wusste schon, von was er redet.

Pablo mag Derrida und kommt aus Frankreich. Auch ohne den promisken Lebensstil erinnert er mich ein bisschen an Violetta aus Travelling & an open mind. Sie wollte zum Arbeiten nach Paris, doch ich habe mich dagegen entschieden, das mit in den Beitrag aufzunehmen.

Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden: Pablo, wie er so dasteht, wirkt ein wenig befangen, gehemmt, haltlos in die Welt geworfen. Vielleicht überspielt er seine Unsicherheit auch nur schlechter als Violetta, aber das macht ihn für mich sympathisch.

Denn mir sind Teilchen, die ein wenig unsicher vor einem Weltganzen stehen, sehr viel lieber als solche, die sich und anderen vormachen, nicht unsicher vorm Weltganzen zu stehen… oder stehen zu müssen.

Nun… Pablo wirkt nicht selbstsicher, ein wenig schüchtern und gefällt mir — wie seiner Kollegin übrigens auch. Sie lacht viel im Gespräch mit ihm. Er ist jung — vermutlich keine 21 — , Franzose und jetzt in Deutschland, studiert hier. Er hat einen stechenden Blick und sogar ich finde den französischen Akzent irgendwie süß. Er hat eine Freundin, mit der er zusammenwohnt, und ich denke, er ist sehr intelligent — intelligenter als ich.

Ich frage mich, ob ich lieber Pablo wäre.

Nein.

Ob ich mir, wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, vormachen könnte, wie er zu sein? … Ich weiß nicht. Ob ich dann wie er wäre? … Ich kann es mir kaum vorstellen.

Ich frage mich, ob ich lieber Violetta wäre.

Auch nicht.

Ob ich mir vormachen könnte wie sie zu sein? Hmm… Ob ich dann glauben würde so zu sein? … Hin und wieder befürchte ich das.

Die Kellnerin?

Jetzt komm schon. …


Am Abend wünsche ich mir ebenso naiv wie sehnlich noch einmal 21 zu sein. Würde ich dann etwas anders machen? Vermutlich nicht. Könnte ja auch jetzt noch viel ändern, wenn ich es nur wollte, nicht?

Ich denke an Stuckrad-Barre, der hat etwas geschrieben; denke an einen Freund, der mir einmal gesagt hat:

“Nun, Stuckrad-Barre hat eben auch etwas erlebt. Etwas, das sich aufzuschreiben lohnt. Ich glaube, auch Prezident sagt das irgendwo: Wenn man als Künstler etwas taugen will, darf man zwar nicht vollkommen am Arsch sein, aber so ein bisschen Blickkontakt zum Abgrund muss schon da sein. … Und da ist schon was Wahres dran.”

Nun, was soll ich darauf erwidern? … Da ist schon was Wahres dran.

Denke: “Noch nicht mal Stuckrad-Barre wäre ich gerne.”


Am nächsten Morgen wache ich auf, wir schreiben das Jahr 2020, ich bin 26, stehe gerade erst am Anfang von allem, kann alles noch ändern; kann vormachen, was ich will, für andere sein, wer ich will, kann Violettas, kann Pablos Leben leben; kann mich mit einer Stange Zigaretten und vielen Espressi in das immer gleiche Café setzen. Wenn ich will sogar in Frankreich, an der Ecke eines Boulevard Saint-Germain; in Thessaloniki an die Brasserie Plaisir; in München in das Café Blá; kann in Berlin im Ritter Butzke an die Wand gelehnt stehen, diese monotone, niemals dissonante Musik hören und Menschen beobachten, kann dort so lange stehen bis… ja vielleicht könnte ich so lange dort stehen, bis sie mir gefallen: Menschen und Musik; vermutlich könnte ich dort stehen bis ich mit der Wand verschmelze und sie mich in sich aufnimmt.

tbc.


Zitat aus:

Solowjew, W. (1985). Der Sinn der Liebe (Vol. 373). Felix Meiner Verlag.

Übrigens:
Mehr Informationen zu Solowjow (den Philosophen) findet ihr sogar, wenn du „Solowjow“ im Suchfeld dieses, meines Blogs eingibst.