Moskau bei Nacht III

Willst du sterben?

Es würde auch schnell gehen. Ein kleiner Raum und eine Axt: auf den Kopf. Alles wird so angerichtet, dass als erstes das Genick bricht. Es ist schnell vorbei. Und niemand wäre dir böse. 

Also: Willst du sterben? 

Und trotzdem haben alle Angst davor, ja zu sagen. Doch dann sagt der erste ja. Und der zweite. Und ich weiß, was von mir erwartet wird: Auch ja zu sagen. 

Aber ich verstehe es nicht: wir sind doch Soldaten. Gerade aus dem Krieg zurückgekehrt: aus einer Schlacht. Wir sollten uns freuen, jubeln.
Gerade jetzt sollte doch unsere Zeit sein. Gerade jetzt sollten wir doch euphorisch sein, es überlebt zu haben, aber wir sind es nicht. 
Stattdessen stellt sich uns die Frage: Ist das Leben, es wert, es zu leben. 
Aber nicht nur das, die Frage stellt sich auch noch in einer Form, dass ein einfaches “Ja” den Tod bedeutet.
Was soll das? Was ist verkehrt mit uns? Und: Was soll das? 

Und es ist die Dynamik: Ja zu sagen. Ja zu sagen, ist was von einem erwartet wird. Und so sage auch ich: ja. 
Es vergeht ein wenig Zeit. Alle sind nervös, alle haben Angst. Dann stehen wir alle vor dem Raum. 
Ich denke die ganze Zeit: “Ich kann noch immer nein sagen, ich kann noch immer nein sagen, ich kann noch immer nein sagen.” 

Dann geht der erste in den Raum. Er setzt sich an die Wand. Legt den Kopf leicht in den Nacken. Vor ihm steht ein anderer mit der Axt in der Hand. Die Tür schließt sich. Alle haben Angst, was jetzt passieren würde. Wir stehen vor der Tür. 

Dann ein Schlag. Jubel: alles war gut gegangen, es ist geschafft.

Danach kommt er wieder heraus und alle gratulieren ihm. Ich bin verwirrt… ging es nicht darum zu sterben? Sollte es jetzt nicht vorbei sein? 
Man erklärt mir: Nein, das war nur der erste Schlag. Nur die Vorbereitung, nur ein Schlag aus Holz. 
Der eigentliche, eiserne Streich folgt erst morgen. Aber ich habe jetzt beschlossen: Nein zu sagen. 
Ich will leben. Beschließe, dass es es doch wert ist. Ich spreche es aus und: es ist in Ordnung.

Aber trotzdem bleibe ich noch immer in der Dynamik. Ich bin noch immer dabei und wir steigen hinten auf die Ladefläche eines unserer alten, tarnfarbenen Trucks. Fahren gemeinsam los. 

Ich bin jetzt raus. Ich werde nicht in den Raum gehen. Ich habe nein gesagt und werde leben. Aber… es bleibt ein fahler Nachgeschmack. Es war so knapp gewesen. Ist es wirklich eine Frage, die man so einfach, so leichtfertig stellen darf?

[Und da war auch ein Schuldgefühl. Hasste mich mein Freund dafür, dass ich (jetzt?) „Nein.“ gesagt hatte?]


Und jetzt liege ich hier. Und frage mich: Was soll das? Wie war es nur soweit gekommen? Ich war vor einer Tür gestanden. So war das gewesen. ‘Sollte ich hineingehen?’, hatte ich mich gefragt. In ein Land voller Fabelwesen? In das Labyrinth? 

Ich erinnere mich. Das war die erste Entscheidung gewesen. Ich hatte mich dafür entschieden und ging hinein. Ich rettete einen kleinen Hund aus einem Baum, trug ihn eine Weile, entlang einer Straße, bis wir rechts den Berg hinunter gingen und es zu steil war; bis es zu gefährlich wurde, ihn zu tragen. Wir tauschten Gedanken aus. Ich sprach mit einer ehemaligen Kommilitonin, die gerade weit entfernt ist. Direkt war da eine Verbindung zwischen uns. Es war schön, sich so verbunden zu jemanden zu fühlen. Und doch: verkörpert wurde sie ja noch immer von dem kleinen Hund. Und so kamen wir zu dem Schluss, dass es besser war, ihn selbst den Berg hinunter laufen zu lassen. 

[…] Dann war viel passiert, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Bis ich irgendwann aus dem Labyrinth gekommen bin. Und dann stand ich vor der Frage. 

Aber… dieser Traum lässt mich wirklich noch viele Stunden verwirrt und betrübt zurück… Was zum… Warum solche Gedanken? … Na… wenigstens mal (wieder) so ein “richtiger” Traum… hätte nicht gedacht, dass ich so einen noch haben kann. 

Und… irgendwie kann ich nicht glauben, was davor geschehen sein soll. Ich hatte mich dafür entschieden und ging hinein, hatte es scheinbar durch das Labyrinth geschafft, nur um dann vor so einer Frage zu stehen: “Willst du sterben?” … Echt jetzt?