Moskau bei Nacht II

Wir waren auf einer ganz normalen Hausparty.

Auf so einer Hausparty mit einem überraschend großen, aber karg eingerichteten und dunklen Zimmer, in das man schnell gemeinsam verschwinden konnte, wenn es der Abend und die Beteiligten so wollten — wenn man Lust verspürte. So eine Hausparty, bei der alles sehr entspannt war und auf der der Gastgeber oder andere Partymitglieder, wenn sie einen dann zufällig dabei überraschten… obwohl “überraschten”… das ist das falsche Wort, weil es keine große Überraschung ist… besser: wenn sie einen dabei sahen, dann machten sie kein großes Aufheben darum.

Sie brachten dann kurz vor, weshalb sie einen gesucht hatten, um im Normalfall dann das Zimmer auch wieder zu verlassen. 
Auf so einer Hausparty traf ich dann auch Lina.

Wir saßen dort in einer größeren Gruppe vor dem Fenster herum. Sie saß auf dem Fensterbrett.

Mich hatte dort gerade irgendein Mädchen einfach sitzen gelassen. Das war aber halb so wild, da ich ohnehin nicht wirklich interessiert an ihr gewesen war. Lina kam da wie gerufen, wie aus dem nichts — vielleicht hatte sie die ganze Zeit schon da gesessen, und mit ihr verband ich eine ganz bestimmte Erfahrung: dass ich mir das mit den schönen Frauen oft selbst verbockte, weil ich die Initiative nicht ergriffen hatte.

Sie hatte mich während meiner Schulzeit immer gut gefunden und hätte ich sie nur einmal angesprochen, mich nur einmal getraut, es bei ihr zu versuchen, dann wäre aus uns vielleicht ein Paar geworden und sie hätte nie die (ihre erste) Beziehung mit “Tomas” eingehen müssen.

Das alles hatte sie mir dann einmal später berichtet, nachdem wir uns zum ersten Mal leicht alkoholisiert auf einer Party länger unterhalten hatten; später auch geküsst hatten.
So hatte ich gelernt, dass ich auch für attraktive Frauen interessant sein konnte, wenn ich mich nur um sie bemühen würde; wenn ich nur mal die Initiative ergreifen würde.

Diesmal aber, musste ich das nicht einmal tun, denn wir kamen auch so ins Gespräch. Wenn man eine alte Schulfreundin, zu der man nie ganz den Kontakt verloren hatte, wie aus dem Nichts, auf einer Party trifft, dann kommt man eben ins Gespräch. Auch ohne Initiative ergreifen zu müssen.

Und uns war auch beiden klar, wie das mit uns beiden heute weitergehen würde… ja fast müsste, dass es nicht notwendigerweise in diesem karg eingerichteten, dunklen Zimmer enden würde, dass es aber doch mit uns beiden in irgendeinem Zimmer enden würde.

Wir unterhielten uns also gerade, als mein WG-Kollege sich zwischen uns drängte.

Er sah das schöne Mädchen, Lina, und versuchte mit ihr zu flirten. 
Ich war überrascht, wie cool ich blieb. 
Ich wusste, Lina wollte ihn nicht, sie wollte mich; hatte mich immer gewollt. Ich sagte auch: “Die ist nichts für dich. Sie steht nicht auf Jüngere.” und drückte ihn weg. Worauf er einfach weiterhin versuchte sich zwischen uns zu drängen, dabei freundlich fragend, woher wir uns denn kannten. Im folgenden Gespräch wiederholte ich immer wieder, dass sie nichts für ihn sei und dass sie nicht auf Jüngere stehe. Eine — wie ich meinte — freundliche Art, ihm zu sagen, dass er doch verschwinden sollte, dabei ließ ich auch immer mein Hand zwischen ihm, Lina und mir, um ihn beständig ein wenig wegzudrücken. So kamen wir dann also darauf, wie wir uns kannten: aus der Schulzeit. Ein wenig unpassend, aber sehr wirksam, machte Lina dann auch ein… ja fast ein Liebesbekenntnis… an mich vor ihm: 
“Es lag gar nicht an dem Geld. Es war einfach er.” und schaute mir in die Augen.

Das ließ Phillip, meinen WG-Kollegen, der noch nicht allzu viel über mich wusste, jetzt erstmal einen vollkommen falschen Eindruck gewinnen. Auf einmal musste er denken, ich wäre so ein reicher, mächtiger Mann, dass Lina mich gut fand — das war für sich schon nicht richtig… ich war stinknormal… — zum anderen: Es war nicht mein Geld von dem Lina sprach, sondern ihres… sie war die “reiche Oligarchentochter”, wie Phillip sagen würde. 

Und ich sah ihr bei ihrem absurden Liebesbekenntnis in die Augen und merkte, dass sie wusste, dass sie gerade an sich nichts Falsches gesagt hatte, aber die Botschaft, die bei Phillip ankam, einfach falsch verstanden werden musste; außerdem sah ich, dass sie verliebt war: in mich.

Damit war das Spiel für Phillip dann auch gelaufen. Und während ich ihn weiter mit der Hand, wie eine lästige Fliege, verscheuchte, ging er dann auch. Endlich.

Dann waren wir wieder allein… nun noch nicht wirklich alleine, wir saßen ja noch immer mit den anderen am Fensterbrett. Lina auf dem Fensterbrett, ich saß meist darunter.

Ab jetzt versuchte sich niemand mehr in unser Gespräch einzumischen und wir konnten ungehemmt miteinander flirten, bis wir gemeinsam in das karge Zimmer gingen, wo wir dann eben Sex hatten. Aber: ohne irgendeine Gefahr — es war klar, wir wollten nur so ein wenig Spaß — dabei war alles unter Kontrolle. Ich hatte mich unter Kontrolle, sie hatte mich unter Kontrolle, ich sie und sie sich; jeder — alles. 

So wirklich bei der Sache war ich nicht. Dafür hatte ich mich unter Kontrolle. So musste ich mich zumindest nie schämen.

Sie saß gerade auf mir mit dem Rücken zur Tür, als ein Freund von mir zur Tür hereinkam. Er war ein wenig aufgeregt, aber nicht aufgelöst oder dergleichen, kam nur ins Zimmer und brachte uns eine Botschaft:

Zwei Zimmer weiter waren die Erscheinungen von Leichen zweier Freunde von uns aufgetaucht. Die beiden waren vor nicht allzu langer Zeit gestorben und jetzt waren die Leichen in der Küche aufgetaucht. Nur aufgetaucht — daher war seine Aufregung auch nicht allzu groß. So eine Erscheinung war jetzt nicht üblich, aber es war ja niemand wirklich gestorben, die beiden waren bereits tot gewesen. So waren nur ihre Leichen eben aufgetaucht. Erstaunlich war nur, dass die Köpfe jeweils getrennt vom Körper lagen. Und er teilte uns das mit.

Das war dann auch das Ende unseres Treibens im kargen Zimmer. So war es auch vorbei mit uns.

Es war nichts passiert. Unsere Pflicht war getan und alles unter Kontrolle geblieben. 

Sollte es mich beunruhigen, wie egal mir das mit den beiden Leichen war? 

Der nächste Morgen

Dieser Freund, ich und noch ein paar andere unserer Freunde saßen jetzt herum. Die anderen alle auf einer Art Heukarren. Er hatte zwei kleine Wagons. Zwei oder drei der Freunde saßen auf dem hinteren Wagon,
zwei — besagter Freund und noch ein sehr breiter, aber eher schweigsamer, weiterer Freund von mir — auf dem vorderen Wagon. Er wirkte geknickt fast verstört, was mir aber erst später auffiel. 
So unterhielten sich besagter Freund von mir und ich über den Traum. Ich saß dabei ihnen gegenüber und erzählte ihm gerade den Traum, als ich ansprach, dass an dem Traum an sich nichts besonderes war.
Besonders war nur, dass wir beide den selben Traum gehabt hatten… und da fragte ich ihn, ob er ihn eigentlich auch aus meiner Perspektive geträumt hatte oder ob er eine andere Person darin spielte. 
Wenn er eine andere Person wäre: was ihm denn dann, auf der Hausparty so aufgefallen war und was er die ganze Zeit über so getrieben hatte. Er beantworte nur die Essenz meiner Frage: Er war die Person gewesen, die zu Lina und mir ins Zimmer gekommen war und uns von den Leichen berichtete.

Dann begann mein schweigsamer Freund zu erzählen. 

Wie aus einem Gebirgsbach sprudelten die Worte aus ihm hervor, was sehr gut zu seiner eher “bergischen” Erscheinung passte, und jetzt wurde auch deutlich, dass er doch ziemlich verstört war. 
Die Erscheinung der Leichen schienen ihm doch etwas zu bedeuten. Er musst auch auf der Party gewesen sein und kannte einige Details mehr als wir. 
Beispielsweise, dass die Köpfe der beiden mit der Schnur eines Telefons abgetrennt worden waren. 
Die schwarze Schnur eines klassischen alten Telefons — gehalten in dem schmutzigen, ehemals fast hellen Grün… alter Telefone mit Drehscheibe. (Irgendwie erinnerte mich das an den Mooshammer-Mord 2005.)

Wir schienen alle den gleichen Traum gehabt zu haben. Das war nun wirklich außergewöhnlich.


All das: die Hausparty, die beiden Leichen, das Hervorsprudeln aus meinem sonst so schweigsamen Freund, dass mein anderer Freund und ich verschiedene Charaktere im selben Traum gewesen waren… lässt mich (wiedermal) nachdenklich zurück.